Leitsatz (amtlich)

1. Für die Einlegung und die Durchführung des Verfahrens der Sprungrevision gelten die allgemeinen Vorschriften über die Revision.

2. Bei Zulassung der Berufung nach SGG § 150 Nr 1 ist eine Belehrung auch über die Möglichkeit der Einlegung der Sprungrevision in dem Urteil des Sozialgerichts nicht erforderlich.

 

Normenkette

SGG § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 161 Fassung: 1953-09-03, § 162 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. August 1954 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Mit Urteil vom 18. August 1954, zugestellt am 25. August 1954, hat das Sozialgericht (SG.) Berlin die von den Klägern gegen das Land Berlin erhobene Klage auf Auszahlung überhobener und vom Versorgungsamt (VersorgA.) Berlin I einbehaltener Versorgungsbezüge abgewiesen; es hat in Anwendung des § 150 Nr.1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Berufung zugelassen und im Urteil die Kläger über das Rechtsmittel der Berufung und die Berufungsfrist, über das Berufungsgericht und seinen Sitz sowie darüber, wo die Berufung anzubringen ist, belehrt.

Mit Schriftsatz vom 31. August 1954, eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) am 2. September 1954, haben die Kläger durch ihre Prozeßbevollmächtigte, Frau Anita R vom Bund Deutscher Kriegsbeschädigter und Kriegshinterbliebener e.V. (BDKK.), Landesverband Berlin, gegen dieses von ihnen näher bezeichnete Urteil Revision (Sprungrevision) eingelegt. Mit einem weiteren Schriftsatz vom 30. September 1954, eingegangen am 4. Oktober 1954, hat die Prozeßbevollmächtigte die Revision begründet und dem Revisionsgericht ein Schreiben des Landesversorgungsamts (LVersorgA.) Berlin vom 16. September 1954 vorgelegt, mit dem dieses als Rechtsmittelgegner zur Einlegung der Sprungrevision durch die Kläger sein Einverständnis erklärt hat. Die Revisionsbegründungsschrift enthält auch einen bestimmten Revisionsantrag.

Nach § 161 Abs.1 Satz 1 SGG kann gegen die nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbaren Urteile der Sozialgerichte unter Übergehung des Berufungsverfahrens die Revision unmittelbar beim BSG. (Sprungrevision) eingelegt werden, wenn der Rechtsmittelgegner einwilligt. Dabei gelten für die Sprungrevision hinsichtlich ihrer Einlegung, insbesondere was die Fristen und die Form anbetrifft, ebenso wie für die Durchführung des Verfahrens die allgemeinen Vorschriften über die Revision (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 161 S. III/43; Hofmann-Schroeter, Sozialgerichtsgesetz, § 161 Anm. 2).

Der Senat hatte zunächst zu prüfen, ob durch die am 25. August 1954 erfolgte Zustellung des angefochtenen Urteils des SG. die Revisionsfrist von einem Monat (§ 164 Abs.1 Satz 1 SGG) in Lauf gesetzt worden ist. Er hat diese Frage bejaht. Das angefochtene Urteil enthält zwar neben der - vollständigen und richtigen - Belehrung über das Rechtsmittel der Berufung nicht auch eine solche über die Sprungrevision und damit über dasjenige Rechtsmittel, von dem die Kläger vorliegend Gebrauch gemacht haben. Das aber steht dem Beginn des Laufs der Revisionsfrist von einem Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils nicht entgegen.

Die Berufung ist ebenso wie in den anderen Gerichtszweigen auch in der Sozialgerichtsbarkeit grundsätzlich dasjenige Rechtsmittel, mit dem die Beteiligten ein Urteil des ersten Rechtszuges bei dem übergeordneten Gericht anfechten können. Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil ist dem Gericht verpflichtend vorgeschrieben, mit der Folge, daß eine unterbliebene oder unrichtige Rechtsmittelbelehrung die Frist für die Einlegung des Rechtsmittels nicht in Lauf setzt und an die Stelle der Regelfrist von einem Monat die Ausnahmefrist von einem Jahr tritt (§ 66 Abs.2 SGG). Das aber bedeutet nicht, daß nun das Gericht des ersten Rechtszuges neben der Belehrung über das regelmäßige Rechtsmittel der Berufung auch noch eine solche über die nach § 161 SGG mögliche Sprungrevision zu erteilen hätte, nämlich für den Fall, daß ein Beteiligter von diesem Rechtsmittel Gebrauch macht. Denn Sinn und Zweck einer Rechtsmittelbelehrung kann allein der sein, den streitenden Parteien den Regelweg zu weisen, wie sie gegebenenfalls ein ihren Wünschen nicht entsprechendes Urteil beseitigen können. Die Sprungrevision aber tritt, wenn sie von einem Beteiligten eingelegt wird, wie die Fassung des § 161 SGG insbesondere die Beschränkung auf die nach § 150 SGG mit der Berufung anfechtbaren Fälle ergibt, immer nur ausnahmsweise und als Ersatz an die Stelle der Berufung, und es kann nicht Aufgabe des Gerichts sein, die Beteiligten außer über das ordentliche Rechtsmittel auch noch über andere mögliche, den Regelfall ausschaltende außerordentliche Rechtsbehelfe wie die Sprungrevision zu belehren. Wer als Beteiligter von dem Rechtsmittel der Sprungrevision Gebrauch macht, muß, auch ohne über sie durch das Urteil belehrt worden zu sein, von sich aus und mit besonderer Sorgfalt darauf sehen, daß er die für die Revision geltenden Form- und Fristvorschriften nicht außer acht läßt, wenn er nicht Gefahr laufen will, daß seine Revision den gesetzlichen Erfordernissen nicht entspricht. Er muß, ohne sich auf die Vorschrift des § 66 Abs.2 SGG berufen zu können, gegen sich gelten lassen, daß die vollständige und richtige Belehrung über die Berufung die Schutzfunktion der gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung in vollem Umfang erfüllt hat (vgl. auch Dietz-Nikisch, Arbeitsgerichtsgesetz, § 76 Anm.19).

Danach war der Lauf der Revisionsfrist für die Kläger einen Monat nach Zustellung des angefochtenen Urteils des SG., nämlich mit Ablauf des 25. September 1954, beendet (§ 164 Abs.1 Satz 1 SGG). Die Revisionsschrift ist, wie bereits dargelegt, zwar innerhalb der Revisionsfrist am 2. September 1954 beim BSG. eingegangen. Sie enthält neben der Bezeichnung des angefochtenen Urteils aber nicht auch einen bestimmten Revisionsantrag. Dieser ist vielmehr erst mit der Revisionsbegründungsschrift am 4. Oktober 1954 eingegangen. Nach § 164 Abs.2 Satz 1 SGG muß die Revision einen bestimmten Antrag enthalten; dabei ist mit dem Wort "Revision" nicht etwa das Rechtsmittel schlechthin gemeint, sondern die Revisionsschrift. Mit Rücksicht darauf indessen, daß die Grenzen der Nachprüfung des angefochtenen Urteils durch einen bestimmten Antrag dem Revisionsgericht jedenfalls bis zum Ablauf der Revisionsfrist bekannt sein müssen, reicht es aus, daß der Antrag spätestens bis zum Ablauf der Revisionsfrist beim BSG. eingegangen ist. Aber auch dies ist vorliegend nicht geschehen, denn der Revisionsantrag der Kläger ist erst mit der Revisionsbegründung nach Ablauf der Revisionsfrist beim BSG. eingegangen.

Nach § 161 Abs.1 Satz 2 SGG ist bei Einlegung einer Sprungrevision der Revisionsschrift überdies auch die schriftliche Einwilligungserklärung des Rechtsmittelgegners zur Sprungrevision beizufügen. Dies ist nicht geschehen, da die Revisionskläger die Einwilligungserklärung erst am 4. Oktober 1954 vorgelegt haben. Zwar kann im Wege der Auslegung auch der Vorschrift des § 161 Abs.1 Satz 2 SGG angenommen werden, daß die Nachbringung der Einwilligungserklärung innerhalb der Revisionsfrist den Mangel der sofortigen Beifügung heilt; die Nachbringung nach Ablauf der Revisionsfrist aber ist auf jeden Fall verspätet und bedeutet für eine sonst frist- und formgerecht eingelegte Sprungrevision das Fehlen eines gesetzlich vorgeschriebenen Formerfordernisses.

Die Sprungrevision der Revisionskläger entspricht hiernach nicht der gesetzlichen Form. Sie war deshalb nach der zwingenden Vorschrift des § 169 Satz 2 SGG ohne weitere Prüfung als unzulässig zu verwerfen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs.1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297041

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