Leitsatz (amtlich)

Das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO findet Anwendung, soweit es um die Frage geht, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung weitere vom Kläger geltend gemachte Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte (haftungsausfüllende Kausalität). Werden unabhängig davon aus der zugrunde liegenden Verletzungshandlung weitere unfallursächliche Primärverletzungen geltend gemacht, unterfallen diese dem Beweismaß des § 286 ZPO (haftungsbegründende Kausalität) (Abgrenzung zum BGH v. 14.10.2008 - VI ZR 7/08, VersR 2009, 69 Rz. 7).

 

Normenkette

ZPO §§ 286-287

 

Verfahrensgang

OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 20.02.2017; Aktenzeichen 10 U 79/15)

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 26.03.2015; Aktenzeichen 2-14 O 72/12)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 10. Zivilsenats des OLG Frankfurt vom 20.2.2017 wird zurückgewiesen.

Auf die Anschlussrevision der Beklagten wird das vorbezeichnete Urteil im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil der Beklagten erkannt worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Kläger wird verurteilt, an die Beklagte 728,67 EUR zzgl. Zinsen i.H.v. 5 % über dem Basiszinssatz seit dem 17.3.2017 zu zahlen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Der Kläger macht materielle und immaterielle Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend.

Rz. 2

Der Kläger betreibt als Selbstständiger einen Limousinen-Service. Er befuhr am 8.10.2010 mit seinem Pkw einen vorfahrtsberechtigten Kreisverkehr, als der Fahrer eines bei der Beklagten haftpflichtversicherten Pkw in den Kreisverkehr einfuhr und mit dem Fahrzeug des Klägers seitlich kollidierte. Die vollumfängliche Einstandspflicht der Beklagten ist zwischen den Parteien unstreitig. Bei dem Verkehrsunfall entstand am Fahrzeug des Klägers ein Streifschaden i.H.v. 18.635,36 EUR, den die Beklagte regulierte. Zwischen den Parteien ist streitig, ob der Kläger bei dem Unfall verletzt wurde.

Rz. 3

Am 13.10.2010 begab sich der Kläger in die Allgemeinarztpraxis M./P. Dort wurden eine HWS-Distorsion sowie ein Kniegelenkserguss, eine Außenmeniskusläsion und eine vordere Kreuzbandläsion am linken Kniegelenk diagnostiziert. Am 15.10.2010 suchte der Kläger den Orthopäden Dr. S. auf. Dieser röntgte die Halswirbelsäule und diagnostizierte eine HWS-Distorsion bei deutlicher Steilstellung der Halswirbelsäule und einen eingeklemmten Innen- und Außenmeniskus. Wegen des Verdachts auf eine Innen- und Außenmeniskusläsion ließ der Kläger in der radiologischen Praxis des Dr. M. ein MRT des linken Knies durchführen. Der Befund ergab degenerative Veränderungen und eine deutliche laterale Gonarthrose. Dr. M. stellte zudem eine ausgeprägte Schädigung des Hinterhorns und von Teilen der Pars Intermedia des Außenmeniskus, einen kleinen Knochen-Knorpel-Defekt und einen leichten Kniegelenkserguss fest. Er führte in seinem Bericht vom 27.10.2010 aus, dass wegen des fehlenden Weichteilödems eine sichere Differenzierung zwischen alten und frischen Schädigungen nicht möglich sei. Ferner enthält der Bericht Feststellungen über degenerative Knorpelschäden retropatellar sowie im femoralen Gleitlager. Die Allgemeinarztpraxis M./P. bescheinigte dem Kläger schließlich unter dem 10.12.2010 eine vollumfängliche Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum vom 8.10.2010 bis zum 6.12.2010.

Rz. 4

Der Kläger hat behauptet, er habe durch den Verkehrsunfall nicht nur eine HWS-Distorsion sondern auch eine Verletzung des linken Knies erlitten, weil sich sein linker Fuß unter dem Gaspedal verklemmt und er sich dadurch das linke Knie verdreht habe. Dadurch, dass er mit dem verletzten Bein als Fahrer keine Aufträge mehr habe erledigen können, sei ihm ein Verdienstausfallschaden in Höhe eines Nettoverdienstes von 1.203,37 EUR täglich und für die 40 Tage seiner Arbeitsunfähigkeit i.H.v. insgesamt 48.134,80 EUR entstanden. Die Firma T. habe Fahrten für ihn übernommen und ihm dafür insgesamt Kosten von 22.627,97 EUR in Rechnung gestellt. Aufgrund seiner Verletzungen sei ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von rund 3.000 EUR gerechtfertigt.

Rz. 5

Mit seiner Klage hat der Kläger zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihm ein angemessenes Schmerzensgeld sowie Verdienstausfall i.H.v. 48.134,80 EUR, jeweils nebst Zinsen, zu zahlen, weiter festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm sämtliche Steuern zu erstatten, die er auf den zu ersetzenden Verdienstausfallschaden an das Finanzamt als Einkommensteuer abzuführen habe, und schließlich, ihm vorprozessuale Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen zu ersetzen.

Rz. 6

Das LG hat nach Einholung eines Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung teilweise abgeändert und die Beklagte verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 600 EUR nebst Zinsen i.H.v. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen. Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter, soweit das Berufungsgericht zu seinem Nachteil erkannt hat. Mit ihrer Anschlussrevision erstrebt die Beklagte die vollständige Abweisung der Klage und Erstattung der von ihr aufgrund des Berufungsurteils an den Kläger geleisteten Zahlungen.

 

Entscheidungsgründe

I.

Rz. 7

Das Berufungsgericht hat im Wesentlichen ausgeführt, dem Kläger stehe gegen die Beklagte, die für die Folgen des Verkehrsunfalls vollumfänglich einzustehen habe, wegen der erlittenen HWS-Beschleunigungsverletzung lediglich ein Schmerzensgeld i.H.v. 600 EUR gem. §§ 7, 11 Satz 2 StVG, § 115 Abs. 1 VVG zu. Nach Würdigung aller Umstände stehe zur Überzeugung des Gerichts i.S.v. § 286 ZPO fest, dass der Kläger unfallbedingt eine leichtgradige HWS-Distorsion als Primärverletzung erlitten habe. Hinreichende Anhaltspunkte hierfür ergäben sich insb. aus den Unterlagen und den Befunden der den Kläger nach dem Unfall behandelnden Ärzte. Auch der Gerichtssachverständige habe in seinem schriftlichen Sachverständigengutachten unter Bezugnahme auf den Befundbericht des Dr. S. den Eintritt einer leichtgradigen HWS-Verletzung überzeugend für möglich gehalten. Zwar habe er eine solche Verletzung für nicht typisch erachtet, weil es sich vorliegend um eine streifende, seitliche Kollision gehandelt habe. Allerdings habe der Sachverständige plausibel und nachvollziehbar angemerkt, dass HWS-Beschleunigungsverletzungen prinzipiell auch bei Frontal-, Seit- oder Mischkollisionen möglich seien. Hierfür spreche im vorliegenden Fall, dass es sich um einen vergleichsweise heftigen Seitenaufprall gehandelt habe, was sich aus dem Schadensbild ergebe und wovon der hohe Sachschaden von über 18.000 EUR zeuge. Der Sachverständige habe im Hinblick auf den Bericht des Orthopäden Dr. S. den unfallbedingten Eintritt einer leichtgradigen HWS-Beschleunigungsverletzung aus sachverständiger Sicht nachvollziehbar als "möglich" erachtet, sofern - so der Sachverständige - ein technischer Unfallsachverständiger überhaupt eine Relevanz des Unfallereignisses annehmen würde. Die Einholung eines oder weiterer Sachverständigengutachten, insb. zur kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, bedürfe es im vorliegenden Fall jedoch nicht, da das Gericht bereits aufgrund der oben angeführten Umstände davon überzeugt sei, dass sich der Kläger durch den Unfall eine leichtgradige HWS-Beschleunigungsverletzung zugezogen habe.

Rz. 8

Dass sich der Kläger durch den Unfall darüber hinaus auch eine Verletzung des Kniegelenkes sowie eine Außenmeniskusläsion und eine Kreuzbandläsion, jeweils links, zugezogen habe, stehe nach durchgeführter Beweisaufnahme dagegen nicht mit der zur vollen Überzeugung des Gerichts erforderlichen Gewissheit i.S.v. § 286 ZPO fest. Nach den Feststellungen des Gerichtssachverständigen seien die im Röntgenbefund und im MRT-Befund festgestellten krankhaften Veränderungen des linken Kniegelenks auf unfallfremde Ursachen, insb. auf degenerative Veränderungen, zurückzuführen. Aus den Diagnosen und Befunden der den Kläger nach dem Unfall behandelnden Ärzte ergäben sich - so der Gerichtssachverständige - vor dem Hintergrund der vom Kläger eingeräumten, indes aber nicht spezifizierten Vorschädigung des bereits arthroskopierten linken Kniegelenks keine ausreichend aussagekräftigen und unfallspezifischen Befunde. Insoweit sei es Sache des Klägers gewesen - falls vorhanden - etwaige weitere aussagekräftige Unterlagen betreffend eine unfallbedingt eingetretene Knieschädigung und die unstreitig vorhandene Vorschädigung des Kniegelenks vor dem Unfall beizubringen, wozu er vom LG vergeblich aufgefordert worden sei.

II.

Rz. 9

Das angegriffene Urteil hält den Angriffen der Revision des Klägers stand. Die Anschlussrevision der Beklagten hat dagegen Erfolg und führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit das Berufungsgericht dem Kläger ein Schmerzensgeld wegen einer HWS-Verletzung nebst Zinsen zuerkannt hat.

A. Revision

Rz. 10

1. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler einen Schadensersatzanspruch des Klägers gegen die Beklagte gem. §§ 7, 11 Satz 2 StVG, § 115 Abs. 1 VVG wegen einer unfallursächlichen Knieschädigung verneint, weil es sich aufgrund der Beweisaufnahme keine Überzeugung i.S.d. § 286 ZPO hat bilden können, dass sich der Kläger durch den Unfall auch eine Verletzung des Kniegelenkes sowie eine Außenmeniskusläsion und eine Kreuzbandläsion zugezogen hat.

Rz. 11

Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht seiner Beweiswürdigung kein falsches Beweismaß zugrunde gelegt, indem es trotz des von ihm festgestellten Primärschadens in Form einer HWS-Distorsion im Hinblick auf die behauptete zusätzliche Knieschädigung das strenge Beweismaß des § 286 ZPO statt des erleichterten Beweismaßes des § 287 ZPO zugrunde gelegt hat.

Rz. 12

a) Bei der Prüfung des Kausalzusammenhangs ist zwischen der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität zu unterscheiden. Die haftungsbegründende Kausalität betrifft den Kausalzusammenhang zwischen der Verletzungshandlung und der Rechtsgutsverletzung, d.h. dem ersten Verletzungserfolg (Primärverletzung). Insoweit gilt das strenge Beweismaß des § 286 ZPO, das die volle Überzeugung des Gerichts erfordert. Hingegen bezieht sich die haftungsausfüllende Kausalität auf den ursächlichen Zusammenhang zwischen der primären Rechtsgutsverletzung und - hieraus resultierenden - weiteren Gesundheitsschäden des Verletzten (Sekundärschäden). Nur hierfür gilt das erleichterte Beweismaß des § 287 ZPO, d.h. zur Überzeugungsbildung kann eine hinreichende bzw. überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen (vgl. BGH, Urt. v. 27.2.1973 - VI ZR 27/72, NJW 1973, 1413, 1414; v. 24.6.1986 - VI ZR 21/85, VersR 1986, 1121, 1122 f.; v. 21.7.1998 - VI ZR 15/98, VersR 1998, 1153, 1154; v. 16.11.2004 - VI ZR 328/03, VersR 2005, 228, 230; v. 12.2.2008 - VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rz. 10, 13).

Rz. 13

b) Allerdings hat der Senat im Beschluss vom 14.10.2008 (VI ZR 7/08, VersR 2009, 69 Rz. 7) - insoweit die Entscheidung nicht tragend - ausgeführt, die Anwendung des § 287 Abs. 1 ZPO sei nicht auf Folgeschäden einer Verletzung beschränkt, sondern umfasse neben einer festgestellten oder unstreitigen Verletzung des Körpers i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB entstehende weitere Körperschäden "aus derselben Schädigungsursache", was zumindest zu Missverständnissen Veranlassung geben kann. Soweit dem zu entnehmen sein sollte, dass eine festgestellte unfallursächliche Primärverletzung ausreiche, um alle darüber hinaus behaupteten Verletzungen unabhängig von ihrem Verhältnis zu dieser Primärverletzung in den Bereich der haftungsausfüllenden Kausalität zu verlagern und damit dem Beweismaß des § 287 Abs. 1 ZPO zu unterstellen, wird hieran nicht festgehalten.

Rz. 14

c) Entsprechendes ergibt sich auch nicht aus den im vorgenannten Beschluss vom 14.10.2008 (VI ZR 7/08, VersR 2009, 69 Rz. 7) zitierten Senatsentscheidungen, in denen ebenfalls zwischen haftungsbegründender Kausalität einerseits und haftungsausfüllender Kausalität als Folge der jeweiligen Primärverletzung andererseits differenziert wird:

Rz. 15

(1) Nach dem Senatsurteil vom 11.1.1972 (VI ZR 46/71, BGHZ 58, 48, 55 f.) genügt ein mit Gesundheitsschäden geborenes Kind seiner Pflicht, zunächst einen konkreten Haftungsgrund, nämlich die Verletzung seiner "Gesundheit", gem. § 286 ZPO nachzuweisen, schon durch den Nachweis, dass es bei einem Unfall seiner Mutter als Leibesfrucht in Mitleidenschaft gezogen worden war. Ist ihm dieser Beweis gelungen, so geht es bei der Frage, ob die Misshandlung der Leibesfrucht zu der angeborenen Hirnschädigung geführt hat, nur noch darum, ob die Hirnschädigung ein Folgeschaden der Verletzung der Leibesfrucht gewesen ist. Dies hatte das dortige Berufungsgericht mit Recht nach § 287 ZPO geprüft und bejaht.

Rz. 16

(2) Im Senatsurteil vom 30.1.1973 (VI ZR 14/72, BGHZ 60, 177, 183 f.) stand fest, dass der nach einem selbst verschuldeten Verkehrsunfall auf der Fahrbahn einer Bundesautobahn liegende, schwer verletzte Geschädigte von einem Bus überrollt und dadurch zusätzlich verletzt worden war. Deshalb beurteilte sich die Auswirkung der zusätzlichen Verletzung, nämlich zumindest deren Mitursächlichkeit für den Tod des Geschädigten, grundsätzlich nach § 287 ZPO.

Rz. 17

(3) Im Fall, der dem Senatsurteil vom 21.10.1986 (VI ZR 15/85, VersR 1987, 310) zugrunde lag, hatte das Auffahren des Beklagten auf den Pkw des Klägers unstreitig zu einer Körperverletzung des Klägers, nämlich einem HWS-Schleudertrauma, geführt. Damit stand der Haftungsgrund fest. Ob diese Verletzung auch eine Hirnschädigung des Klägers zur Folge hatte, war nach § 287 ZPO zu beurteilen. Nach den dortigen Ausführungen des Sachverständigen bestand nämlich eine - allerdings seltene - Entstehungsmöglichkeit einer Hirnkontusion durch das erst vom Heckaufprall des Beklagten ausgelöste HWS-Schleudertrauma.

Rz. 18

(4) In dem Senatsurteil vom 2.12.1975 (VI ZR 79/74, VersR 1976, 435, 437) ging es um die Anwendung von § 287 ZPO in einer Fallgestaltung, in der sich der Tatrichter bezüglich der bei einem insgesamt zu ermittelnden Kausalverlauf möglichen Zwischenursachen eine Überzeugung bilden muss, also wiederum um die Frage, ob eine bestimmte feststehende Verletzung (durch den Sturz eines Säuglings) über eine Hirnschädigung als Zwischenursache zu einer Epilepsie geführt hatte. In dem dort in Bezug genommenen Senatsurteil vom 27.2.1973 (VI ZR 27/72, VersR 1973, 619, 619 f.) ging es um die Frage, ob eine haftungsbegründende Körperverletzung in Form einer Brustkorbprellung und einer fraglichen Knorpelfraktur am linken Rippenbogen im weiteren Verlauf zu einer Lungenembolie und dadurch zum Tod des Geschädigten geführt hatte, was der haftungsausfüllenden Kausalität i.S.d. § 287 ZPO zugeordnet worden ist.

Rz. 19

(5) Gegenstand des Senatsurteils vom 28.1.2003 (VI ZR 139/02, VersR 2003, 474, 476) war die Frage, ob eine nach dem Beweismaß des § 286 ZPO vom Berufungsgericht festgestellte HWS-Distorsion als Primärverletzung für weitere Beschwerden des Klägers (Schmerzen im Nacken-, Schulter- und Kopfbereich sowie Schwindel und Übelkeit, Tinnitus und eine Verschlechterung des Sehvermögens) ursächlich war, was als eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität nach dem Haftungsmaß des § 287 ZPO beurteilt worden ist.

Rz. 20

(6) Im Senatsurteil vom 4.11.2003 (VI ZR 28/03, VersR 2004, 118, 119 f.) hatte die dortige Klägerin nicht zur vollen Überzeugung des Berufungsgerichts i.S.d. § 286 ZPO bewiesen, dass sie als Primärverletzung eine (traumatische) Handgelenksverletzung erlitten hatte, die der Sachverständige als Voraussetzung für eine zeitlich nach dem Unfall aufgetretene Erkrankung (Morbus Sudeck) bezeichnet hatte.

Rz. 21

(7) Im Senatsurteil vom 12.2.2008 (VI ZR 221/06, VersR 2008, 644 Rz. 13) stand dagegen die durch den Behandlungsfehler im Sinne haftungsbegründender Kausalität hervorgerufene primäre Körperverletzung, nämlich die durch die unterbliebene Ruhigstellung und damit unsachgemäße Behandlung einer Fraktur eingetretene Störung der gesundheitlichen Befindlichkeit (Fortdauer eines pathologischen Zustandes) fest. Welche weiteren Schäden sich hieraus entwickelt hatten, war eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität i.S.d. § 287 ZPO. Da der Morbus Sudeck nach dem Klagevortrag nicht durch den der Behandlung vorangegangenen Unfall, sondern durch die infolge der ärztlichen Fehlbehandlung hervorgerufene Gesundheitsbeeinträchtigung eingetreten sein sollte, behauptete der Kläger insoweit einen Sekundär-/Folgeschaden.

Rz. 22

(8) Den vorgenannten Entscheidungen ist gemeinsam, dass die Anwendbarkeit des § 287 ZPO nur insoweit bejaht wurde, als es um die Frage ging, ob eine haftungsbegründende Primärverletzung - wie vom Kläger jeweils geltend gemacht - weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen zur Folge hatte. Dies steht im Streitfall jedoch nicht in Rede. Ob der Kläger im Streitfall durch den genannten Verkehrsunfall neben einer vom Berufungsgericht festgestellten HWS-Distorsion eine Verletzung des linken Knies erlitten hat, ist - entgegen der Auffassung der Revision - keine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität, sondern betrifft die Frage, ob der Kläger durch den Unfall eine weitere Primärverletzung in Form einer Knieschädigung erlitten hat. Dies unterfällt - wie das Berufungsgericht richtig gesehen hat - dem Beweismaß des § 286 ZPO. Die Revision zeigt keinen in der Instanz übergangenen Sachvortrag auf, wonach der Kläger geltend gemacht hat, die behauptete Knieschädigung sei Folge der HWS-Distorsion.

Rz. 23

2. Die Revision hat auch keinen Erfolg, soweit sie hilfsweise rügt, das Berufungsgericht habe auch nach dem Beweismaß des § 286 ZPO die Knieverletzung verfahrensfehlerhaft nicht für erwiesen erachtet.

Rz. 24

a) Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich dem Tatrichter vorbehalten, an dessen Feststellungen das Revisionsgericht gem. § 559 Abs. 2 ZPO gebunden ist. Dieses kann lediglich nachprüfen, ob sich der Tatrichter entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st.Rspr. vgl. z.B. BGH, Urt. v. 1.10.1996 - VI ZR 10/96, VersR 1997, 362, 364; v. 8.7.2008 - VI ZR 274/07, VersR 2008, 1126 Rz. 7; v. 16.4.2013 - VI ZR 44/12, VersR 2013, 1045 Rz. 13). Einen solchen Fehler zeigt die Revision nicht auf.

Rz. 25

b) Das Berufungsgericht hat sich - ebenso wie das LG - auf Grundlage der Ausführungen des Gerichtssachverständigen in tatrichterlicher Würdigung keine Überzeugung bilden können, dass die im Röntgenbefund und im MRT-Befund festgestellten krankhaften Veränderungen des linken (vorarthroskopierten) Kniegelenks auf eine unfallbedingte Verletzung zurückzuführen sind. Das Berufungsgericht hat damit die Klageabweisung entgegen der Auffassung der Revision nicht darauf gestützt, dass am Knie kein Schaden bestehe, sondern darauf, dass der Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Schaden nicht bewiesen sei, weil der Schaden am Knie auf unfallfremde Ursachen, insb. auf degenerative Veränderungen, zurückzuführen sein könne. Da der Sachverständige erhebliche degenerative Vorschäden am Knie (insb. Gonarthrose und Knorpelschäden) festgestellt hat, waren die von der Revision zitierten Behandlungsunterlagen, soweit sie lediglich den Nachweis der Beeinträchtigung des Knies betrafen, aus der rechtsfehlerfreien Sicht des Berufungsgerichts unerheblich. Ob aus den vorhandenen Behandlungsunterlagen Rückschlüsse auf die Unfallursächlichkeit gezogen werden konnten oder nicht, ist sowohl in dem Sachverständigengutachten als auch in den Urteilsgründen der Vorinstanzen erörtert worden. Entgegen der Auffassung der Revision war das Berufungsgericht auch nicht verpflichtet, von Amts wegen zu ermitteln, ob und ggf. wo weitere Behandlungsunterlagen existierten, aus denen als Vergleichsmaßstab Rückschlüsse auf den Zustand des Knies vor dem Unfall hätten gezogen werden können. Einen Antrag nach § 428 ZPO zu konkret bezeichneten Behandlungsunterlagen (vgl. BGH, Urt. v. 27.5.2014 - XI ZR 264/13, NJW 2014, 3312 Rz. 28) hat der Kläger nicht gestellt. Eines Hinweises nach § 139 ZPO bedurfte es entgegen der Auffassung der Revision nicht, da dem Kläger aufgrund des erstinstanzlichen Sachverständigengutachtens klar sein musste, dass nach dem Stand der Dinge der Nachweis eines unfallursächlichen Knieschadens nicht geführt war. Im Übrigen legt die Revision nicht dar, was der Kläger nach einem entsprechenden Hinweis konkret vorgetragen hätte und welche Folgen dies für den weiteren Prozessverlauf zu seinen Gunsten gehabt hätte.

Rz. 26

c) Die weiteren Verfahrensrügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (vgl. § 564 Abs. 1 ZPO).

Rz. 27

B. Anschlussrevision

Rz. 28

Die Anschlussrevision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger habe unfallbedingt eine leichtgradige HWS-Distorsion als Primärverletzung erlitten. Diese Beurteilung ist nicht frei von Rechtsfehlern (§ 286 ZPO).

Rz. 29

1. Die Beweiswürdigung ist zwar - wie oben bereits ausgeführt - grundsätzlich Sache des Tatrichters. Revisionsrechtlich ist jedoch zu überprüfen, ob sich der Tatrichter mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt hat, die Würdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt. Einer solchen Überprüfung hält das Berufungsurteil nicht stand. Die Anschlussrevision rügt mit Recht, dass die Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts weder in dem Gutachten des Gerichtssachverständigen noch in den sonstigen Feststellungen eine Grundlage findet und das Berufungsgericht den Prozessstoff nicht hinreichend geklärt hat.

Rz. 30

a) Der (medizinische) Gerichtssachverständige hat seine vom Berufungsgericht als für seine Überzeugungsbildung maßgeblich erachtete Aussage, ein HWS-Beschleunigungstrauma sei "möglich", vom Ergebnis eines noch einzuholenden unfallanalytischen Gutachtens abhängig gemacht. Nach dem vorgelegten Bericht des Dr. S. sei eine Verletzungsfolge im Sinne einer leichtgradigen HWS-Beschleunigungsverletzung (HWS-Distorsion) aus sachverständiger Sicht "möglich", sofern vom technischen Unfallsachverständigen überhaupt eine Relevanz des Unfallereignisses angenommen werde. Der medizinische Sachverständige hat mithin eine HWS-Distorsion nur deshalb als "möglich" angesehen, weil die für eine abschließende medizinische Begutachtung erforderliche technische Sachaufklärung aus seiner Sicht noch nicht abgeschlossen war. Da das Berufungsgericht kein unfallanalytisches Sachverständigengutachten eingeholt hat, war die Frage, ob der Kläger durch den Unfall eine entsprechende Verletzung erlitten hat, nach dem Ergebnis des medizinischen Sachverständigengutachtens offen.

Rz. 31

b) Das Berufungsgericht durfte von der Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens mit anschließender Ergänzung des medizinischen Sachverständigengutachtens auch nicht deshalb absehen, weil das Berufungsgericht meint, dass es aufgrund anderer Umstände vom Eintritt einer leichtgradigen HWS-Distorsion überzeugt sei.

Rz. 32

aa) Die Feststellung, es habe sich um einen "vergleichsweise heftigen Seitenaufprall" gehandelt, machte die Einholung eines technischen Sachverständigengutachtens nicht entbehrlich. Der Tatrichter darf, wenn es um die Beurteilung einer Fachwissen voraussetzenden Frage geht, auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens nur verzichten, wenn er entsprechende eigene besondere Sachkunde auszuweisen vermag. Zudem muss der Tatrichter, wenn er bei seiner Entscheidung eigene Sachkunde in Anspruch nehmen will, den Parteien zuvor einen entsprechenden Hinweis erteilen (vgl. etwa BGH v. 9.1.2018 - VI ZR 106/17, VersR 2018, 1147 Rz. 16 m.w.N.). Die Anschlussrevision macht mit Recht geltend, dass das Berufungsgericht eigene Sachkunde, die es ihm erlaubt hätte, aus den Lichtbildern auf die kinetische Energie zu schließen, die auf die Halswirbelsäule des Klägers gewirkt haben könnte, nicht dargelegt hat. Allein aus den Lichtbildern vom Schaden am Fahrzeug des Klägers lassen sich für einen Laien keine entsprechenden Rückschlüsse ziehen. Sie zeigen lediglich, dass das Fahrzeug des Klägers durch einen Streifschaden über die gesamte Seite beschädigt worden ist, was zwar die Höhe des materiellen Schadens erklären kann, jedoch keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Krafteinwirkung auf den Fahrer zulässt. Der Gerichtssachverständige hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, es habe sich um eine streifende seitliche Kollision und damit nicht um den Mechanismus gehandelt, bei dem typischerweise HWS-Beschleunigungsverletzungen auftreten könnten.

Rz. 33

bb) Die Beurteilung des Berufungsgerichts lässt sich auch nicht allein auf die Befunde und Diagnosen der erstbehandelnden Ärzte stützen. Nach dem Senatsurteil vom 3.6.2008 (VI ZR 235/07, VersR 2008, 1133) haben entsprechende Ergebnisse als Indizien lediglich einen eingeschränkten Beweiswert und ersetzen deshalb grundsätzlich nicht die von den Parteien beantragte Einholung eines fachmedizinischen Sachverständigengutachtens durch das Gericht. Da der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersucht und behandelt, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters betrachtet, sondern ihn als Therapeut behandelt, steht für ihn die Notwendigkeit einer Therapie im Mittelpunkt, während die Benennung der Diagnose als solche für ihn zunächst von untergeordneter Bedeutung ist. Eine ausschlaggebende Bedeutung wird solchen Diagnosen im Allgemeinen jedenfalls nicht beizumessen sein. Der Gerichtssachverständige hat im Streitfall hierzu ausgeführt, die vorliegenden Befunde seien zwar prinzipiell mit einer leichtgradigen HWS-Beschleunigungsverletzung vereinbar, jedoch dafür nicht pathognomonisch (charakteristisch).

Rz. 34

cc) Letztlich beanstandet die Anschlussrevision mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Verabreichung eines Schmerzmittels als Indiz für eine HWS-Distorsion angesehen hat ohne die Feststellung zu treffen, ob dies wegen der behaupteten HWS-Distorsion erfolgte oder wegen der behaupteten Schmerzen am linken Knie.

Rz. 35

2. Nach alledem war das Berufungsurteil auf die Anschlussrevision der Beklagten teilweise aufzuheben und die Sache im Umfang der Aufhebung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen nachholen kann.

Rz. 36

Infolge der Aufhebung kann die Beklagte nach § 717 Abs. 3 Satz 2 ZPO vom Kläger die Erstattung der von ihr aufgrund des Berufungsurteils geleisteten Zahlungen verlangen. Aufgrund des Berufungsurteils hat die Beklagte (unwidersprochen) am 14.3.2017 an den Kläger einen Betrag von insgesamt 728,67 EUR (600 EUR auf die titulierte Hauptforderung zzgl. 128,67 EUR Zinsen) gezahlt, dessen Rückzahlung sie mit ihrem vorliegenden Zahlungsantrag begehrt. Der Zinsanspruch folgt aus § 717 Abs. 3 Satz 3 und 4 ZPO i.V.m. §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.

 

Fundstellen

Haufe-Index 13125206

BGHZ 2020, 43

NJW 2019, 2092

DAR 2019, 313

DAR 2019, 507

JZ 2019, 488

MDR 2019, 739

VersR 2019, 694

NJW-Spezial 2019, 330

VRA 2019, 117

r+s 2019, 353

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