Leitsatz (amtlich)

›Die Kündigungsregelung in § 19 ARB hält einer Inhaltskontrolle gem. § 9 AGBG nicht stand, weil die Versicherer zu Lasten der Versicherungsnehmer davon abgewichen sind, daß die verschuldensunabhängige außerordentliche Kündigungsmöglichkeit den Partnern eines Dauerschuldverhältnisses im gleichen und nicht im unterschiedlichen Umfang zusteht.‹

 

Tatbestand

Der Kläger nimmt die Beklagte im Verbandsprozeß gemäß § 13 AGB-Gesetz darauf in Anspruch, daß diese in ihren Antragsformularen zum Abschluß von Rechtsschutzversicherungsverträgen, denen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung (ARB 75) zugrunde gelegt werden sollen, die Verwendung von § 19 Abs. 2 ARB unterläßt. § 19 ARB hat insgesamt folgenden Wortlaut:

"§ 19 Kündigung nach dem Versicherungsfall

(1) Lehnt der Versicherer nach Eintritt des Versicherungsfalles den Versicherungsschutz ab, ist der Versicherungsnehmer berechtigt, den Versicherungsvertrag fristlos oder zum Ende der laufenden Versicherungsperiode zu kündigen. Das gleiche Recht hat der Versicherungsnehmer auch dann, wenn er für außergerichtliche Verfahren oder für gerichtliche Verfahren spätestens während der ersten Instanz erstmalig Versicherungsschutz begehrt und der Versicherer die Notwendigkeit der Wahrnehmung der rechtlichen Interessen des Versicherungsnehmers verneint, der für den Versicherungsnehmer tätige Rechtsanwalt sie dagegen bejaht. Ist der Rechtsanwalt vom Versicherer benannt und verneint er die Notwendigkeit der Wahrnehmung der rechtlichen Interessen, kann der Versicherungsnehmer gleichwohl kündigen, wenn er innerhalb eines Monates nach Kenntnis der ablehnenden Entscheidung des Rechtsanwaltes die Stellungnahme eines weiteren Rechtsanwaltes beibringt, welcher die Notwendigkeit bejaht. Die Kündigung ist nur innerhalb eines Monates nach Zugang der Ablehnung des Versicherungsschutzes beziehungsweise nach Zugang der bejahenden Stellungnahme des vom Versicherungsnehmer benannten Rechtsanwaltes zulässig.

(2) Bejaht der Versicherer seine Leistungspflicht für mindestens zwei in einem Kalenderjahr eingetretene Versicherungsfälle, ist er innerhalb eines Monates nach Anerkennung der Leistungspflicht für den zweiten oder jeden weiteren Versicherungsfall berechtigt, den Versicherungsvertrag mit einer Frist von einem Monat zu kündigen.

(3) Dem Versicherer gebührt der anteilige Beitrag bis zur Beendigung des Versicherungsvertrages."

Der Kläger meint, § 19 Abs. 2 ARB weiche in einer mit § 9 Abs. 2 Nr. 1 AGB-Gesetz nicht zu vereinbarenden Weise vom Leitbild des Rechtsschutzversicherungsvertrages ab, wie es sich im Rahmen der geltenden Gesetze in den beteiligten Verkehrskreisen durch langandauernde Handhabung herausgebildet habe. Danach könne ein Dauerschuldverhältnis durch außerordentliche Kündigung nur dann beendet werden, wenn ein wichtiger Grund die weitere Fortsetzung des Vertrages als unzumutbar erscheinen lasse. Das für die Feuer-, Hagel- und Haftpflichtversicherung gesetzlich vorgesehene außerordentliche Kündigungsrecht stelle kein allgemeines Rechtsprinzip dar, welches auf die Rechtsschutzversicherung übertragbar sei. Durch die Kündigungsmöglichkeit nach Eintritt von zwei Versicherungsfällen in einem Kalenderjahr werde der Vertragszweck gefährdet, wonach dem Versicherungsnehmer für eine längere Vertragsdauer in einer Mehrzahl von Versicherungsfällen Rechtsschutz zu gewähren sei. Selbst wenn das in den §§ 96, 113, 158 VVG vorgesehene außerordentliche Kündigungsrecht als allgemeines Prinzip der Schadensversicherung auch für die Rechtsschutzversicherung entsprechende Gültigkeit haben sollte, verstoße die Art seiner Verwendung durch die Beklagte gegen das in § 9 Abs. 1 AGB-Gesetz verankerte Transparenzgebot. Das außerordentliche Kündigungsrecht der Beklagten werde dem Versicherungsnehmer bei der Gestaltung von § 19 ARB und seiner Stellung im gesamten Bedingungswerk nicht hinreichend deutlich vor Augen geführt.

Demgegenüber vertritt die Beklagte die Auffassung, bereits die aufsichtsamtliche Genehmigung der beanstandeten Klausel setze die ausreichende Wahrung der Belange des Versicherten voraus und spreche gegen eine unangemessene Benachteiligung. Bei der Bestimmung des Maßstabs der Inhaltskontrolle sei nicht auf ein vermeintliches Leitbild des Rechtsschutzversicherungsvertrags abzustellen, da in den §§ 96, 113, 158 VVG ein allgemeiner Grundsatz über die außerordentliche Kündigung von Dauerschuldverhältnissen zum Ausdruck komme. Durch eine Kündigung nach § 19 Abs. 2 ARB werde das Äquivalenzgefüge des Vertrages nicht gefährdet. Die Eintrittspflicht des Versicherers bleibe in mindestens zwei sowie in weiteren bereits eingetretenen und bis zur Vertragsbeendigung noch eintretenden Fällen bestehen. Mit einer vorzeitigen Beendigung des Versicherungsverhältnisses müsse der Versicherungsnehmer dann rechnen, wenn die Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen im Hinblick auf die Prämienhöhe der Solidargemeinschaft der Versicherten nicht mehr zugemutet werden könne. Die Zumutbarkeitsgrenze sei in der textlichen Gestaltung der beanstandeten Klausel im Bedingungswerk an der systematisch zutreffenden Stelle dem Versicherungsnehmer ohne weiteres erkennbar geregelt.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit seiner zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Unterlassungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Das Rechtsmittel hat Erfolg. Der Kläger ist gemäß § 13 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AGBG berechtigt, von der Beklagten zu verlangen, daß sie es unterläßt, die angegriffene Bestimmung des § 19 Abs. 2 der Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung aus dem Jahre 1975 (ARB 75, veröffentlicht in VerBAV 1976, 130) oder eine inhaltsgleiche Bestimmung zu verwenden (soweit es sich nicht um Verträge mit einem Kaufmann handelt und der Vertrag zum Betrieb seines Handelsgewerbes gehört). Die Bestimmung ist gemäß § 9 Abs. 1 AGBG unwirksam.

Das Berufungsgericht ist der Ansicht, § 19 Abs. 2 ARB 75 weiche weder in unvereinbarer Weise von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung ab (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 AGBG) noch schränke er wesentliche, sich aus der Natur des Vertrages ergebende Rechte und Pflichten derart ein, daß die Erreichung des Vertragszweckes gefährdet werde (§ 9 Abs. 2 Nr. 2 AGBG). Zwar sei von der Leitbildfunktion des dispositiven Rechts auszugehen. Dabei sei jedoch nicht allein darauf abzustellen, daß bei Dauerschuldverhältnissen, zu denen Versicherungsverträge gehörten, nach dem Grundgedanken der §§ 242, 626 BGB ein außerordentliches Kündigungsrecht nur bestehe, wenn einem Vertragspartner die Fortsetzung des Vertrages nicht mehr zuzumuten sei und die hierfür maßgeblichen Umstände nicht dem Gefahrenbereich des Kündigenden entstammten. Es müsse berücksichtigt werden, daß es sich bei Versicherungsverträgen um Massengeschäfte handle, bei denen persönliche Beziehungen der Beteiligten in der Regel keine Rolle spielten. Zudem bildeten die Versicherten eine Solidar- und Gefahrengemeinschaft. Deshalb komme auch den für die Feuer-, Hagel- und Haftpflichtversicherung in den §§ 96, 113, 158 VVG geschaffenen außerordentlichen Kündigungsmöglichkeiten in Verbindung mit dem allgemeinen Grundsatz über die außerordentliche Kündigung von Dauerschuldverhältnissen Leitbildfunktion zu.

Nach Ansicht des Berufungsgerichts ist den Grundgedanken. der genannten Kündigungsregeln in § 19 Abs. 2 ARB 75 Rechnung getragen. § 19 Abs. 2 ARB 75 enthalte auch keine Einschränkung der Leistungspflicht der Beklagten; die außerordentliche Kündigungsmöglichkeit berühre nicht den Inhalt, sondern nur den Fortbestand des Versicherungsvertrages. Die Bestimmung sei auch nicht deshalb unangemessen, weil Versicherungsnehmer bei Abschluß einer neuen Rechtsschutzversicherung möglicherweise eine höhere Prämie oder eine Wartefrist (vgl. § 5 Satz 3 ARB 75) in Kauf nehmen müßten.

Diese Ausführungen sind von Rechtsfehlern beeinflußt.

1. Allerdings hat das Berufungsgericht gesehen, daß es durch die Bindung an den Klageantrag gemäß § 308 Abs. 1 ZPO und § 15 Abs. 1 AGBG, mit dem nur begehrt wird, der Beklagten die Verwendung des § 19 Abs. 2 ARB 75 oder einer inhaltsgleichen Klausel zu untersagen, nicht an der Prüfung gehindert war, ob eine unangemessene Benachteiligung der Versicherungsnehmer aufgrund des Zusammenwirkens dieser Bestimmung mit anderen nicht angegriffenen Klauseln der ARB 75 zu bejahen ist (BGHZ 106, 259 unter II 2).

2. Bei dieser Prüfung ist zu beachten, daß das Bürgerliche Gesetzbuch wie das Versicherungsvertragsgesetz und die sie ergänzende Rechtsprechung zwei Arten des Rechts zur fristlosen bzw. außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen kennen, deren Strukturunterschiede berücksichtigt werden müssen.

a) So gibt es Rechte zur fristlosen Kündigung eines auf Dauer angelegten Vertragsverhältnisses aus Anlaß bestimmter Vertragsverstöße des Partners des Kündigenden, die ersterer zu vertreten hat, z.B. das außerordentliche Kündigungsrecht des Vermieters bei Verzug (bestimmter Art und bestimmten Umfangs) des Mieters gemäß § 554 BGB oder das außerordentliche Kündigungsrecht des Versicherers gemäß § 6 Abs. 1 VVG bei bestimmten, vom Versicherungsnehmer zu vertretenden Obliegenheitsverletzungen. Diesen Regelungen ist gemeinsam, daß es jeweils nur um die Kündigungsmöglichkeit einer Vertragsseite geht.

Das Bürgerliche Gesetzbuch räumt aber auch Möglichkeiten zur außerordentlichen Kündigung von Dauerschuldverhältnissen ein, die einen vom Vertragspartner verschuldeten oder sonst zu vertretenden Vertragsverstoß nicht notwendig voraussetzen, sondern die an eine Situation anknüpfen, die eine weitere Fortsetzung des Vertragsverhältnisses für den Kündigungsberechtigten als unzumutbar erscheinen läßt. Diesen gesetzlich geregelten Kündigungsmöglichkeiten ist es eigen, daß sie in gleicher Weise beiden Vertragsseiten offen stehen, so z.B. gemäß § 626 BGB für Dienstverhältnisse allgemeiner Art, gemäß § 627 BGB für Dienstverhältnisse, in deren Rahmen der Dienstverpflichtete eine besondere Vertrauensstellung einnimmt, gemäß § 723 BGB für Gesellschaften des bürgerlichen Rechts.

An die im Gesetz vereinzelt geregelten außerordentlichen Kündigungsmöglichkeiten hat die Rechtsprechung angeknüpft. Sie hat den Grundsatz entwickelt, daß Dauerschuldverhältnisse auch ohne gesetzliche oder vertragliche Grundlage aus wichtigem Grund, der verschuldensunabhängig entstanden sein kann oder verschuldet sein mag, gekündigt werden können und daß dieses Kündigungsrecht vertraglich nicht vollständig ausgeschlossen werden kann. Allerdings darf auch eine Kündigung dieser Art nicht auf Umstände gestützt werden, die dem Gefahrenbereich des Kündigenden entstammen (BGH, Urteil vom 15. Juni 1951 - V ZR 86/50 - LM BGB § 242 (Ba) Nr. 2). In der Regel hat auch derjenige kein außerordentliches Kündigungsrecht wegen Unzumutbarkeit der Vertragsfortsetzung, der bei beiderseits verschuldeter Zerrüttung der Vertragsgrundlage eines Dauerschuldverhältnisses das überwiegende Verschulden daran trägt (BGH, Urteil vom 11. Februar 1981 - VIII ZR 312/79 - LM BGB § 242 (Bc) Nr. 26 = NJW 1981, 1264).

Bei allen bisher genannten Möglichkeiten einer außerordentlichen Kündigung hat der Kündigende zu beweisen, entweder daß sein Vertragspartner den das Kündigungsrecht begründenden Vertragsverstoß begangen hat oder daß und wie es zumindest ohne überwiegendes Verschulden des Kündigenden - zu einer Zerrüttung der Vertragsgrundlage gekommen ist, die unter Abwägung der berechtigten Belange der Vertragsparteien eine Vertragsfortsetzung für den Kündigenden unzumutbar erscheinen läßt. Vermag der Kündigende ausreichenden Beweis für eine derartige Situation nicht zu führen, so bleibt seine Kündigung wirkungslos.

b) Von dieser Rechtslage des Bürgerlichen Gesetzbuches und der an sie anknüpfenden Rechtsprechung entfernen sich die verschuldensunabhängigen Möglichkeiten einer außerordentlichen Kündigung eines Versicherungsverhältnisses, soweit sie im VVG ausdrücklich geregelt sind, beträchtlich.

Gemäß § 96 VVG ist in der Feuerversicherung "nach dem Eintritt des Versicherungsfalles jeder Teil berechtigt, das Versicherungsverhältnis zu kündigen".

Gemäß § 113 VVG ist in der Hagelversicherung "nach dem Eintritt eines Versicherungsfalles jeder Teil berechtigt, das Versicherungsverhältnis zu kündigen, der Versicherer nur für den Schluß der Versicherungsperiode, in welcher der Versicherungsfall eingetreten ist, der Versicherungsnehmer spätestens zu diesem Zeitpunkt".

Für die Haftpflichtversicherung bestimmt § 158 VVG:

"Hat nach dem Eintritt eines Versicherungsfalles der Versicherer dem Versicherungsnehmer gegenüber seine Verpflichtung zur Leistung der Entschädigung anerkannt oder die Leistung der fälligen Entschädigung abgelehnt, so ist jeder Teil berechtigt, das Versicherungsverhältnis zu kündigen. Das gleiche gilt, wenn der Versicherer dem Versicherungsnehmer die Weisung erteilt, es über den Anspruch des Dritten zum Rechtsstreit kommen zu lassen."

In keiner der drei Regelungen wird darauf abgestellt, ob ein wichtiger Grund tatsächlich gegeben ist, der die Vertragsfortsetzung für den Kündigenden unzumutbar erscheinen lassen könnte. Er ist folglich von dem Kündigenden auch nicht vorzutragen oder zu beweisen. Diesen Regelungen ist vielmehr gemeinsam, daß das Kündigungsrecht daran anknüpft, daß es infolge eines vom Versicherungsnehmer geltend gemachten Versicherungsfalles zu Kontakten zwischen den Vertragsparteien gekommen ist. Kontakte und Verhandlungen der Parteien eines Versicherungsvertrages anläßlich eines Versicherungsfalles können - unabhängig von ihrem Ausgang - sehr unterschiedlich verlaufen. Der Gesetzgeber des VVG hat nicht danach differenziert, ob Leistungen - berechtigt oder unberechtigt - geltend gemacht bzw. abgelehnt worden sind. Das ist auch in § 158 VVG nicht geschehen. Daß die Kündigung in der Haftpflichtversicherung erst erklärt werden kann, wenn der Versicherer seine Entscheidung getroffen bzw. die Weisung, den Haftpflichtprozeß zu führen, erteilt hat, macht das Kündigungsrecht nicht davon abhängig, wie die endgültige Versichererentscheidung ausgefallen ist. Das Kündigungsrecht steht nicht etwa je nach Ausgang der Entscheidung der einen Partei zu und der anderen nicht.

Das Kündigungsrecht in den §§ 96, 113 und 158 VVG wird vielmehr jeder Vertragsseite in gleicher Weise und gleichem Umfang wie der anderen eingeräumt; es gibt keine Differenzierung in der Kündigungsvoraussetzung je nach Parteistellung; keiner der beiden Vertragsteile kann durch die Art seines Vorgehens anläßlich eines geltend gemachten Versicherungsfalles dem anderen das Kündigungsrecht aus der Hand schlagen. Es steht in den drei Versicherungsarten beiden Vertragspartnern zu, ohne daß es eine Rolle spielt, ob der Versicherungsnehmer berechtigte oder unberechtigte Forderungen an seinen Versicherer gestellt hat oder ob der Versicherer reguliert oder abgelehnt hat - sei es zu Recht oder zu Unrecht.

3. Der Rechtsstreit nötigt nicht zu einer Entscheidung darüber, ob in den §§ 96, 113, 158 VVG ein allgemeiner Grundgedanke des Versicherungsrechts seinen Niederschlag gefunden hat, dem auch für andere Versicherungsarten, hier speziell für die Rechtsschutzversicherung, Leitbildfunktion im Sinne des § 9 Abs. 2 Nr. 1 AGBG zukommt (vgl. zum Meinungsstand Harbauer, Rechtsschutzversicherung 4. Aufl. § 19 Rn. 1 m.w.N.; Martin, Sachversicherungsrecht 2. Aufl. L II Rn. 4, 5; Martin in Prölss/Martin, VVG 24. Aufl. § 96 Anm. 1 A und B; Prölss in VersR 1963, 893; ders. in Prölss/Martin, aaO § 8 Anm. 5; OLG Düsseldorf in VersR 1968, 243; Vassel in VerBAV 1968, 224).

a) Auch wenn man von dieser Leitbildfunktion ausgehen könnte, hielte die Kündigungsregelung in § 19 ARB 75, dessen Absatz 2 die Klägerin beanstandet, einer Inhaltskontrolle gemäß § 9 Abs. 1 AGBG nicht stand.

Die Beklagte weicht mit ihr nicht nur von Grundgedanken des allgemeinen bürgerlichen Rechtes, sondern auch von den §§ 96, 113, 158 VVG ab, indem und insbesondere wie sie unterschiedliche Kündigungsvoraussetzungen für Versicherungsnehmer und Versicherer formuliert hat. Wie sich aus dem bislang Dargelegten ergibt, gehört es auch im Rahmen der §§ 96, 113 und 158 VVG zum Wesenskern eines verschuldensunabhängigen Kündigungsrechts, daß es den Vertragsparteien in gleicher Weise zusteht. Deshalb kann seine wirksame Einschränkung grundsätzlich nicht in Allgemeinen Versicherungsbedingungen zu Lasten der Versicherungsnehmer erfolgen. Es kommt wegen dieses Grundprinzips auch keine isolierte Prüfung des § 19 Abs. 2 ARB 75 in Betracht. § 19 Abs. 1 und Abs. 2 ARB 75 bilden als zusammengehörige Regelung ein- und desselben Kündigungsrechts für die Inhaltskontrolle nach § 9 Abs. 1 AGBG eine unteilbare Einheit (vgl. auch Martin, Sachversicherungsrecht 2. Aufl. L II Rn. 9).

Die sonach gebotene Prüfung der ganzen Kündigungsausgestaltung in § 19 ARB ergibt: Die Beklagte beansprucht in § 19 Abs. 2 ARB 75 ein Kündigungsrecht, das sie mit § 19 Abs. 1 ARB 75 ihren Versicherungsnehmern gerade abschneiden will. Die Versicherungsnehmer sollen nicht kündigen können, wenn die Beklagte nach Eintritt eines Versicherungsfalles Leistungen erbracht hat. Sie sollen - außer im Fall der Leistungsablehnung - nur kündigen können, wenn bei Streit über die Notwendigkeit der Wahrnehmung rechtlicher Interessen des Versicherungsnehmers der für den Versicherungsnehmer tätige, von ihm eingeschaltete Rechtsanwalt die Notwendigkeit entgegen der Ansicht der Beklagten oder des von ihr eingeschalteten Rechtsanwalts bejaht.

Die Beklagte will dagegen kündigen können, wenn sie mindestens für zwei in einem Kalenderjahr eingetretene Versicherungsfälle ihre Leistungspflicht bejaht hat, nicht aber, wenn sie Leistungen abgelehnt hat.

Mit dieser Regelung bekäme es die Beklagte in die Hand, ihre Versicherungsnehmer so lange - und zwar gerade solange - am Versicherungsvertrag festzuhalten, wie es ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht, ohne den Versicherungsnehmern die von ihr unbeeinflußbare Möglichkeit belassen zu müssen, daß sie sich vorzeitig aus dem Versicherungsverhältnis lösen. Sie hätte damit sichergestellt, daß sie ihre Versicherungsnehmer behält, solange sie den Vertragsverlauf als zufriedenstellend beurteilt, sich aber dann von ihnen trennen kann, wenn der einzelne Versicherungsnehmer nach ihrer Auffassung zu einem sogenannten schlechten Risiko wird, sich z.B. zu konflikts- oder prozeßfreudig zeigt. Damit ist das Gleichgewicht in den Rechtspositionen der beiden Vertragsseiten empfindlich zu Lasten der Versicherungsnehmer gestört.

b) Dessen Wahrung hat sich der Gesetzgeber des VVG aber gerade angelegen sein lassen. Sind die gesetzlichen Kündigungsvoraussetzungen gegeben (Eintritt eines Versicherungsfalles, bzw. in der Haftpflichtversicherung zusätzlich die getroffene, dem Versicherer ohnehin vertraglich obliegende abschließende Entscheidung, ob er Leistungen erbringt oder ablehnt, bzw. die Erteilung seiner Weisung, den Haftpflichtprozeß zu führen), müssen beide Vertragsparteien gleichmäßig in Kauf nehmen, daß es anläßlich jeden Versicherungsfalles zu einer vorzeitigen Vertragsbeendigung kommen kann. Ungleiche, vom Vertragsgegner gar steuerbare Kündigungsmöglichkeiten sind mit dem gesetzgeberischen Prinzip, wie es in den §§ 96, 113, 158 VVG ausgeformt worden ist, nicht vereinbar und demnach einer Regelung zu Lasten der Versicherungsnehmer in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen nicht zugänglich. Die Versicherungsnehmer würden hierdurch in nicht hinnehmbarer Weise benachteiligt.

c) Sieht man die Kündigungsregelung der §§ 96, 113, 158 VVG als Ausdruck eines allgemeinen Grundgedankens des Versicherungsrechts an, der auch Leitbildfunktion für die Rechtsschutzversicherung entfaltet, so erweist sich § 19 Abs. 1 und 2 ARB 75 als unvereinbar mit § 9 Abs. 2 Nr. 1 AGB.

Nimmt man den ebenfalls vertretenen Standpunkt ein, es handle sich bei den genannten VVG-Bestimmungen um Einzelregelungen, denen keine Leitbildfunktion für das Versicherungsrecht zukomme, so wird noch augenfälliger, daß die Beklagte mit ihrer Kündigungsregelung ihre Versicherungsnehmer entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt. Sie weicht dann in noch größerem Maße von den Grundgedanken der gesetzlichen und in der Rechtsprechung weiterentwickelten Regelung der Kündigung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigem Grund außerhalb des Versicherungsrechts ab, als dies gegenüber den §§ 96, 113 und 158 VVG der Fall ist.

4. Die Bindung des Gerichts an den Klageantrag gemäß § 308 Abs. 1 ZPO führt dazu, daß der Urteilsausspruch sich auf den Absatz 2 des § 19 ARB 75 und ihm inhaltsgleiche Bestimmungen in Allgemeinen Rechtsschutzversicherungsbedingungen beschränken muß.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2993671

NJW 1991, 1828

BGHR AGBG § 9 Abs. 2 Nr. 1 Rechtsschutzversicherung 1

BGHR AVB Rechtsschutzversicherung (ARB) § 19 Kündigungsrecht 1

DRsp II(228)180b

NJW-RR 1991, 918

JurBüro 1991, 903

MDR 1991, 722

VersR 1991, 580

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