Leitsatz (amtlich)

Entscheidungen über die Anerkennung eines Arbeitsunfalls im Verfahren der Reichsversicherungsordnung oder der Sozialgerichtsbarkeit, an die das Zivilgericht nach § 638 RVO gebunden ist, sind vom Revisionsgericht auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erst nach Einlegung der Revision ergangen sind.

 

Normenkette

ZPO § 561 Abs. 1; RVO § 638

 

Verfahrensgang

OLG Hamm (Urteil vom 05.02.1979)

LG Detmold

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des 13. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 5. Februar 1979 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Revision fallen dem Beklagten zur Last.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin, pflichtversichertes Mitglied der Innungskrankenkasse L., wurde wegen eines Gallensteinleidens im Krankenhaus L. stationär behandelt. Während der Operation am 28. Oktober 1976 kam es, weil sich die Schlauchverbindung zwischen der Beatmungsmaschine und dem Narkosekreislaufteil löste, zu einem Narkosezwischenfall, durch den die Klägerin voraussichtlich bleibend gesundheitlich geschädigt wurde.

Mit ihrer Klage hat sie von dem beklagten Kreis als dem Träger des Krankenhauses ein Schmerzensgeld nicht unter 150.000 DM sowie Feststellung seiner Verpflichtung zum Ersatz des Zukunftsschadens verlangt.

Das Landgericht hat dem Schmerzensgeldanspruch dem Grunde nach sowie der Feststellungsklage stattgegeben.

Die Berufung des Beklagten ist erfolglos geblieben.

Mit seiner Revision erstrebt der Beklagte weiterhin Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts kann die Klägerin (innerhalb der durch Forderungsübergang auf Sozialversicherungsträger nach § 1542 RVO gezogenen Grenzen) den beklagten Kreis als Träger des Krankenhauses nach §§ 823, 831, 847 BGB auf Ersatz ihres materiellen und immateriellen Schadens in Anspruch nehmen, den sie am 28. Oktober 1976 erlitten hat. Dabei folgt das Berufungsgericht dem Landgericht darin, daß der Narkosezwischenfall auf Überwachungsversäumnisse des bei dem Beklagten beschäftigten Narkosearztes und des Narkosepflegers zurückzuführen ist, für die der Beklagte haftet, weil er sich als Geschäftsherr nicht nach § 831 BGB entlastet hat.

Dieser Ausgangspunkt ist zwischen den Parteien außer Streit. Gestritten wird im gegenwärtigen Verfahrensstand nur noch darum, ob sich der Beklagte zu Recht darauf beruft, von der Haftung für den Vorfall nach § 636 RVO befreit zu sein.

Das Berufungsgericht verneint das und erwägt:

Das Haftungsprivileg des Unternehmers bei einem Arbeitsunfall des in seinem Unternehmen tätigen Versicherten nach § 636 RVO greife im Streitfall weder nach dem Wortlaut der Vorschrift noch nach ihrem Sinn ein. Der Versicherungsschutz, den die Klägerin nach § 539 Abs. 1 Nr. 17 a RVO in der gesetzlichen Unfallversicherung während der stationären Behandlung gehabt habe, erstrecke sich nicht auf die Risiken der ärztlichen Behandlung, die sich hier verwirklicht hätten. Auch sei der Beklagte als Krankenhausträger im Verhältnis zu der Klägerin nicht als Unternehmer i.S. von § 636 RVO anzusehen; dies auch nicht als „weiterer” Unternehmer i.S. des § 636 Abs. 2 RVO. Unternehmer für die nach § 539 Abs. 1 Nr. 17 RVO Versicherten sei gemäß Nr. 3 des § 658 Abs. 2 RVO allein der Rehabilitationsträger, hier die Innungskrankenkasse. Der Beklagte werde zu Beiträgen der Unfallversicherung des Rehabilitanden nicht herangezogen; es fehle somit an seiner Gegenleistung für das von ihm in Anspruch genommene Haftungsprivileg.

II. Im Ergebnis wehrt sich die Revision gegen diese Ausführungen ohne Erfolg.

1. Es ist umstritten, ob zugunsten des Krankenhausträgers § 636 RVO angewendet werden kann, wenn nach § 539 Abs. 1 Nr. 17 a RVO versicherte Personen während ihrer stationären Behandlung einen Unfall erleiden, der Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung auslöst. Dies hat zwar das OLG Braunschweig bejaht (NJW 1978, 1203; siehe dazu aber noch BSG NJW 1978, 2358), indes ist seine Entscheidung überwiegend auf Kritik gestoßen (Ahrens/Udsching NJW 1978, 1666, 1671; Küchenhoff SGb 1978, 457, 459; Martin SGb 1978, 480, 481 f; Husmann VersR 1978, 793). Im Streitfall kann die Frage dahinstehen. Denn hier hat der erkennende Senat davon auszugehen, daß der Schaden, den die Klägerin erlitten hat, nicht in ihren Versicherungsschutz aus § 539 Abs. 1 Nr. 17 a RVO einbezogen ist. Damit ist für die Anwendung von § 636 RVO schon deshalb kein Raum, weil diese Vorschrift voraussetzt, daß der Unfall als Arbeitsunfall i.S. der Reichsversicherungsordnung einen Versicherungsfall auslöst, für den der Verunglückte aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt wird (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 6. Dezember 1977 – VI ZR 79/76 = VersR 1978, 150, 151).

a) Die insoweit zuständige Verwaltungs-Berufsgenossenschaft (vgl. dazu Nartschik VersR 1978, 894; Lauterbach, Unfallversicherung 3. Aufl. § 539 Rdz. 97 h Buchst. e) hat durch Bescheid vom 28. Oktober 1977 die Anerkennung der Schädigung als Arbeitsunfall versagt und deshalb den von der Klägerin angemeldeten Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung ihr gegenüber abgelehnt. Hiergegen hat die Klägerin keine Rechtsbehelfe erhoben. Allerdings hat der Beklagte gegen den Bescheid Widerspruch eingelegt und nach dessen Zurückweisung durch die Berufsgenossenschaft, gestützt auf § 639 RVO, Klage vor den Sozialgerichten erhoben, mit der er zuletzt die Feststellung begehrt hat, daß die Schädigung ein Arbeitsunfall i.S. von § 539 Abs. 1 Nr. 17 RVO sei. Das Sozialgericht hat jedoch diese Klage durch Urteil vom 6. Oktober 1978 abgewiesen. Die Sprungrevision des Beklagten hat das Bundessozialgericht durch Urteil vom 31. Januar 1980 mit der Begründung zurückgewiesen, dem Beklagten fehle die Befugnis, aus § 639 RVO zu klagen, weil er nicht neben dem Rehabilitationsträger „weiterer” Unternehmer i.S. des § 636 Abs. 2 RVO sei.

b) Damit ist durch das Urteil des Bundessozialgerichts die Frage, ob die Schädigung ein Arbeitsunfall gewesen ist, im verneinenden Sinn endgültig auch für die Zivilgerichte entschieden, die an diese Feststellung nach § 638 Abs. 1 Nr. 1 RVO gebunden sind.

Die Endgültigkeit dieser Feststellung kann die Revision nicht durch den Hinweis in Zweifel ziehen, daß das Urteil des Bundessozialgerichts nur die Klagebefugnis des Beklagten verneint, mithin in der Sache nicht entschieden habe. Das trifft zwar zu, ändert aber nichts daran, daß für den Beklagten spätestens durch dieses rechtskräftige Urteil, das ihm ein Prozeßführungsrecht hierzu versagt hat, Möglichkeiten verschlossen sind, vor den Sozialgerichten den Ablehnungsbescheid der Berufsgenossenschaft anzugreifen. Das gilt selbst dann, wenn man Bedenken haben müßte, ob das Vorverfahren verfahrensfehlerfrei gewesen ist, wie dies die Revision geltend macht. Auch die Klägerin kann gegen diesen Bescheid nicht mehr vorgehen, da sie ihn hat bindend werden lassen. Damit ist der Ablehnungsbescheid der Berufsgenossenschaft endgültig geworden; der Beklagte kann daher schon deshalb die Klägerin nicht auf Ansprüche gegen den Rehabilitationsträger verweisen.

c) Das Urteil des Bundessozialgerichts ist zwar erst nach Einlegung der Revision ergangen. Indes steht das der Berücksichtigung im Revisionsverfahren nicht im Wege; sie hindert auch die Vorschrift des § 561 Abs. 1 ZPO nicht, die die Einführung neuer Tatsachen nach Abschluß des Berufungsrechtszugs grundsätzlich verbietet.

Als Ausnahme von diesem Grundsatz hat die Rechtsprechung wiederholt die Einführung neuer Tatsachen in den Revisionsrechtszug zugelassen, soweit sie vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berücksichtigen sind (vgl. die Nachweise bei Stein/Jonas/Grunsky ZPO 20. Aufl. § 561 Rdz. 16; Baumbach/Albers ZPO 38. Aufl. § 561 Anm. 3 B). Die hiergegen erhobenen Einwände, die vor allem die Befriedungsaufgabe des § 561 ZPO hervorheben (vgl. Rimmelspacher, Zur Prüfung von Amts wegen im Zivilprozeß 1966, 41 ff, 194 ff; ZZP 88, 245; Grunsky SAE 71, 24, 26; ders. in Stein/Jonas a.a.O. § 561 Rdz. 10), können jedenfalls keine Berücksichtigung finden, wenn es wie hier um Entscheidungen über die Anerkennung eines Arbeitsunfalles im Verfahren der Reichsversicherungsordnung oder der Sozialgerichtsbarkeit geht, die nach dem Sinn des § 638 RVO die Zivilgerichte deshalb binden, um in dieser Frage den Vorrang jener fremden Verfahrenszuständigkeiten vor der Zivilgerichtsbarkeit sicherzustellen und damit die Grenzen der Sachprüfung auch für das Revisionsgericht betreffen. Zur Gewährleistung dieses Vorrangs ordnet § 638 Abs. 2 RVO die Aussetzung des Verfahrens vor den Zivilgerichten bis zur Erschöpfung der in erster Linie berufenen „fremden” Entscheidungszuständigkeiten an, soweit es um diese Frage geht. Es wäre ein auch der Befriedungsfunktion des § 561 ZPO im Wege stehender Formalismus, wenn das Revisionsgericht eine erst im Revisionsverfahren ergangene Entscheidung des Sozialgerichts nicht berücksichtigen dürfte und etwa deshalb genötigt wäre, den Rechtsstreit wegen dieser Frage auszusetzen, obwohl sie inzwischen verbindlich entschieden worden ist.

2. Daraus ergibt sich, daß der Beklagte schon deshalb durch § 636 RVO von seiner Haftung nicht freigestellt sein kann, weil für den vorliegenden Rechtsstreit verbindlich feststeht, daß die Schädigung der Klägerin kein Versicherungsfall ist, der als Arbeitsunfall Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung auslöst. Da dem Ersatzanspruch auch sonst keine Rechtsgründe entgegenstehen, ist der Klage zu Recht stattgegeben worden.

 

Unterschriften

Dr. Weber, Dunz, Scheffen, Dr. Steffen, Dr. Deinhardt

 

Fundstellen

Haufe-Index 1372860

Nachschlagewerk BGH

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