Entscheidungsstichwort (Thema)

Einsichtnahmerecht des Krankenversicherers in Pflegedokumentation. Einwilligung des Heimbewohners oder seines gesetzlichen Betreuers. Kostenerstattung

 

Leitsatz (amtlich)

a) Liegt eine Einwilligung des Heimbewohners oder seines gesetzlichen Betreuers vor, kann dem Krankenversicherer aus übergegangenem Recht gem. § 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB ein Anspruch auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentation gegen Kostenerstattung zustehen (vgl. Senat, Urt. v. 23.3.2010 - VI ZR 249/08, zur Veröffentlichung in BGHZ vorgesehen).

b) § 294a SGB V ist nicht entsprechend auf die Einsicht in Pflegedokumentationen anwendbar.

 

Normenkette

SGB X § 116 Abs. 1 S. 1; BGB § 401 Abs. 1, § 412; SGB V § 294a

 

Verfahrensgang

LG Essen (Urteil vom 28.10.2008; Aktenzeichen 15 S 120/08)

AG Essen (Entscheidung vom 03.04.2008; Aktenzeichen 18 C 462/07)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil der 15. Zivilkammer des LG Essen vom 28.10.2008 aufgehoben.

Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Rz. 1

Die Klägerin nimmt als gesetzlicher Krankenversicherer den Beklagten zum Zweck der Prüfung von Schadensersatzansprüchen auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentation einer bei ihr versicherten Heimbewohnerin in Anspruch.

Rz. 2

Die Versicherte erhält seit Jahren vollstationäre Pflegeleistungen in einem Seniorenzentrum, dessen Träger der Beklagte ist. Sie ist schwerstpflegebedürftig und kann insb. Lageveränderungen im Bett nur mit personeller Hilfe vornehmen.

Rz. 3

Die Versicherte wurde am 21.11.2006 wegen eines Sakraldekubitus stationär in eine Klinik aufgenommen und operiert. Die infolge des Durchliegegeschwürs entstandenen Aufwendungen hat die Klägerin getragen. Vorprozessual haben der Beklagte und sein Haftpflichtversicherer die Übermittlung der Pflegedokumentation abgelehnt.

Rz. 4

Das AG hat den Beklagten antragsgemäß verurteilt, die (im Einzelnen aufgelistete) Pflegedokumentation betreffend den Aufenthalt der Versicherten im Seniorenzentrum für die Zeit vom 1.8.2006 bis einschließlich 30.11.2006 zur Einsichtnahme in Kopie zu übermitteln. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren auf Übermittlung einer Kopie der Pflegedokumentation für die Zeit vom 1.8.2006 bis einschließlich 30.11.2006 weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Rz. 5

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass die Versicherte den Beklagten ausdrücklich von der Schweigepflicht entbunden habe, bedeute nicht, dass sie ihn ermächtigt habe, das ihr zustehende Einsichtsrecht auszuüben. An der Wirksamkeit einer solchen Ermächtigung bestünden auch Zweifel, weil die Versicherte unwidersprochen hinsichtlich Ort, Zeit und Person desorientiert sei.

Rz. 6

Ein Einsichtsrecht der Klägerin ergebe sich nicht aus § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. §§ 401, 412 BGB. Nach diesen Vorschriften gingen Auskunftsansprüche zu einem eventuell übergegangenen Schadensersatzanspruch der Versicherten wegen schlechter Pflegeleistungen zwar grundsätzlich als Hilfsrechte mit über, soweit sie zur Durchsetzung der Forderung benötigt würden. Das sei hier indes nicht der Fall, weil es sich bei dem Einsichtsrecht des Pflegeheimbewohners in die Pflegedokumentation um einen aus dem Selbstbestimmungsrecht und der personalen Würde des Betroffenen resultierenden persönlichen Anspruch handle, für den ein Übergang nach § 399 BGB ausgeschlossen sei.

Rz. 7

§ 294a SGB V scheide als unmittelbare Anspruchsgrundlage für ein Einsichtsrecht der Klägerin in die Pflegedokumentation aus, weil diese Vorschrift nicht für das Seniorenzentrum gelte. Eine analoge Anwendung dieser Vorschrift auf Pflegeheime komme nicht in Betracht. Krankenkassen hätten zwar ggü. den Pflegeeinrichtungen anders als gegenüber ärztlichen Einrichtungen keinen Einsichtsanspruch; insoweit sei aber nicht von einer dem Gesetzgeber unbewussten oder versteckten Gesetzeslücke auszugehen.

II.

Rz. 8

Das Berufungsurteil hält einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

Rz. 9

1. Wie der erkennende Senat in dem Parallelurteil vom heutigen Tag - VI ZR 249/08, vorgesehen zur Veröffentlichung in BGHZ - entschieden hat, steht dem Krankenversicherer entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts grundsätzlich ein Anspruch auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentation aus übergegangenem Recht gem. § 116 Abs. 1 SGB X i.V.m. §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB wegen eines möglichen Schadensersatzanspruchs der Versicherten aus einer Verletzung des Heimvertrags bzw. § 823 Abs. 1 BGB zu.

Rz. 10

a) Ein auf anderen gesetzlichen Vorschriften beruhender Anspruch auf Ersatz eines Schadens geht nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X auf den Versicherungsträger über, soweit dieser aufgrund des Schadensereignisses Sozialleistungen zu erbringen hat, die der Behebung eines Schadens der gleichen Art dienen und sich auf denselben Zeitraum wie der vom Schädiger zu leistende Schadensersatz beziehen. Nach dieser Vorschrift ist auch beim Forderungsübergang auf den Sozialversicherungsträger Gegenstand der Ersatzpflicht nur der Schaden des Verletzten. Der Sozialversicherungsträger nimmt den Ersatzpflichtigen nicht auf Ersatz eines eigenen "Schadens" in Gestalt seiner durch den Versicherungsfall ausgelösten, vom Gesetzgeber angeordneten Leistungspflichten in Anspruch, sondern verlangt eine Erstattung seiner Aufwendungen insoweit, als ein Schadensersatzanspruch des Versicherten gegen einen Dritten besteht.

Rz. 11

b) Im Streitfall stellen das Berufungsgericht und die Revisionserwiderung nicht in Frage, dass der geschädigten Heimbewohnerin ein Schadensersatzanspruch wegen schlechter Pflegeleistungen zustehen kann, der auf die Klägerin nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X übergegangen wäre. Das Berufungsgericht geht auch davon aus, dass dem Heimbewohner grundsätzlich ein eigenes Einsichtsrecht in die über ihn geführte Pflegedokumentation entsprechend dem Einsichtsrecht des Patienten in die Krankenunterlagen als Nebenanspruch aus dem Behandlungs- bzw. Heimvertrag zusteht (vgl. Harsdorf-Gebhardt PflR 1999, 252 ff.). Dagegen ist revisionsrechtlich nichts zu erinnern. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats und des BVerfG hat der Patient gegenüber Arzt und Krankenhaus auch außerhalb eines Rechtsstreits als Ausfluss seines Rechts auf Selbstbestimmung und personale Würde grundsätzlich einen Anspruch auf Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen, ohne dafür ein besonderes rechtliches Interesse darlegen zu müssen (vgl. BGH BGHZ 85, 327, 332; 106, 146, 148; Urt. v. 31.5.1983 - VI ZR 259/81, VersR 1983, 834, 835; BVerfG NJW 1999, 1777; 2006, 1116, 1117). Die hierfür maßgeblichen Gesichtspunkte gelten auch für das Recht des Heimbewohners auf Einsichtnahme in seine Pflegedokumentationen. Auch diese enthalten höchstpersönliche Angaben über den Bewohner und berühren in starkem Maße dessen Selbstbestimmungs- und Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG). Die Pflegedokumentation ist eine unverzichtbare Informationsquelle für alle am Pflegeprozess Beteiligten und dient auch dem Nachweis, dass der Heimbewohner die ihm nach dem Inhalt des Heimvertrags zustehenden Leistungen vom Pflegeheimträger erhalten und letzterer seinen Verpflichtungen ihm gegenüber nachgekommen ist. Insoweit hat sie dem Heimbewohner gegenüber auch eine wichtige Schutzfunktion (vgl. Harsdorf-Gebhardt PflR 1999, 252 f.; Klie/Krahmer-Klie, Sozialgesetzbuch XI, 3. Aufl., § 113 Rz. 7a).

Rz. 12

Soweit für eine Einsichtnahme in die Pflegedokumentationen die Darlegung eines sachlichen Interesses gefordert wird (so Harsdorf-Gebhardt, a.a.O., 253, 256), gibt der Streitfall keinen Anlass, dies abschließend zu klären. Ein sachliches Interesse der geschädigten Versicherten für eine Einsichtnahme in die über sie geführte Pflegedokumentation ist nämlich schon wegen des erlittenen Sakraldekubitus mit der deshalb notwendigen Krankenhausbehandlung gegeben.

Rz. 13

2. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts konnte das Einsichtsrecht der Geschädigten bzw. deren Anspruch auf Herausgabe von Kopien der Pflegedokumentation im Streitfall grundsätzlich auch auf die Klägerin übergehen. Ein solcher Übergang auf den gesetzlichen Krankenversicherer ist grundsätzlich gem. § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB möglich.

Rz. 14

a) Nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X wären etwaige Schadensersatzansprüche der Geschädigten auf die Klägerin übergegangen. Mit dem Übergang der Hauptforderung gehen nach §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB auch solche Nebenrechte auf den neuen Gläubiger über, die zwar nicht in § 401 BGB ausdrücklich genannt sind, aber gleichwohl der Verwirklichung und Sicherung einer Forderung dienen. Die Vorschrift des § 401 BGB ist nämlich ihrem Zweck entsprechend auf alle der Verstärkung der Forderung dienenden Nebenrechte auszudehnen, soweit nicht besondere Rechtsgrundsätze dem entgegen stehen. Dies gilt insb. auch für Hilfsrechte, die zur Durchsetzung der Forderung erforderlich sind oder der leichteren Verwirklichung des Hauptanspruchs dienen, wie Ansprüche auf Auskunftserteilung oder Einsichtnahme. Solche Rechte können nicht selbständig abgetreten werden, sondern gehen grundsätzlich mit dem Hauptanspruch auf den neuen Gläubiger über (vgl. BGH, Beschl. v. 16.6.2000 - BLw 30/99, ZIP 2000, 1444; v. 18.7.2003 - IXa ZB 148/03, NJW-RR 2003, 1555, 1556; BSGE 98, 142 Rz. 14; OLG München VersR 1985, 846; Roth in MünchKomm/BGB, § 401 Rz. 8; Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Aufl., § 401 Rz. 4; Staudinger/Busche, BGB, Neubearbeitung 2005, § 401 Rz. 28, 34 m.w.N.; Wessel ZfS 2002, 461 f.). Dieser Übergang der verstärkenden Nebenrechte erfolgt gem. § 412 BGB auch bei einem Übergang der Hauptforderung kraft Gesetzes (vgl. BGHZ 19, 177, 179; 46, 14 f.; KassKomm/Kater, SGB X, § 116 Rz. 141).

Rz. 15

b) Ein solcher Übergang konnte entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts auch im Streitfall erfolgen.

Rz. 16

aa) Zwar wird die grundsätzlich bestehende Nebenpflicht, Einsicht in die ihn betreffenden Krankenunterlagen oder Pflegedokumentationen zu gewähren, aus dem Selbstbestimmungsrecht und der personalen Würde des Patienten oder Heimbewohners abgeleitet. Das besagt aber noch nicht, dass dieser Vertragsanspruch damit in vollem Umfang ein "höchstpersönlicher" sei, der gem. §§ 399, 412 BGB nicht ganz oder teilweise auf andere übergehen könnte. Vielmehr darf der vertragliche Nebenanspruch auch legitimen wirtschaftlichen Belangen dienstbar gemacht werden, wie etwa der Klärung von Schadensersatzansprüchen sowohl gegen andere Ärzte als auch gegen den auf Einsichtsgewährung in Anspruch genommenen Arzt selbst. Jedenfalls insoweit hat der Einsichtsanspruch auch eine vermögensrechtliche Komponente, so dass sein Übergang auf die Erben als möglich angesehen wurde (§ 1922 BGB), soweit nicht das Wesen des Anspruchs aus besonderen Gründen einem Gläubigerwechsel entgegen steht (vgl. BGH, Urt. v. 31.5.1983 - VI ZR 259/81 -, a.a.O.; OLG München VersR 2009, 982; Schultze-Zeu VersR 2009, 1050 ff.). Solche Gründe wurden bei der Prüfung eines auf die Erben übergegangenen Einsichtsanspruchs in dem Rechtsinstitut der ärztlichen Schweigepflicht gesehen, die grundsätzlich nur durch Entbindung seitens des Geheimhaltungsberechtigten gelöst werden dürfe. Die Pflicht des Arztes zur Verschwiegenheit gelte im Grundsatz auch im Verhältnis zu nahen Angehörigen des Patienten und dürfe ihnen gegenüber nur ausnahmsweise und nur im vermuteten Einverständnis des Patienten gebrochen werden, soweit einer ausdrücklichen Befreiung Hindernisse entgegen stünden (vgl. BGH, Urt. v. 31.5.1983 - VI ZR 259/81 -, a.a.O.; OLG München, a.a.O., 983).

Rz. 17

In diesem Zusammenhang ist bei der Einsicht in eine Pflegedokumentation das Grundrecht des Heimbewohners auf informationelle Selbstbestimmung zu beachten, das die Befugnis des Einzelnen gewährleistet, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1, 43; 78, 77, 84; 80, 367, 373; BVerfG NJW 2006, 1116, 1117), also auch die Freiheit, persönliche Daten zu offenbaren (vgl. BVerfG VersR 2006, 1669, 1671). Hieraus folgt, dass das Einsichtsrecht in eine Pflegedokumentation nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB V, §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB nur dann auf den gesetzlichen Krankenversicherer übergehen kann, wenn eine Einwilligung des Heimbewohners vorliegt oder zumindest von seinem vermuteten Einverständnis auszugehen ist, soweit einer ausdrücklichen Befreiung Hindernisse entgegen stehen (vgl. Schultze-Zeu, a.a.O., 1051 ff.).

Rz. 18

bb) Das Berufungsgericht hat die vorstehend geschilderte Rechtsprechung zur Prüfung eines auf die Erben übergegangenen Einsichtsanspruchs gesehen, jedoch gemeint, diese sei auf das begehrte Einsichtsrecht einer Krankenkasse nicht übertragbar. Für dieses Einsichtsrecht bedürfe es vielmehr einer gesetzlichen Regelung. Dies trifft indes bei Beachtung der vorstehend dargelegten Voraussetzungen für einen Übergang des Einsichtsrechts in Krankenunterlagen oder Pflegedokumentationen auf den gesetzlichen Krankenversicherer nicht zu.

Rz. 19

Soweit gegen die Übergangsfähigkeit des Nebenrechts auf Einsicht bei einer begehrten Einsicht in Krankenunterlagen eingewendet wird, die Rechte der Krankenkassen auf Information und Auskunft zur Prüfung der Regressmöglichkeit nach § 116 SGB X seien im SGB V, insb. in § 294a, genauestens geregelt und eine Umgehung dieser datenschutzrechtlich ausgerichteten Bestimmungen durch zivilrechtliche Regelungen würde die gesamte Systematik des Sozialrechts konterkarieren (so Bergmann KH 2008, 825, 830), beachtet diese Argumentation nicht den grundsätzlichen Unterschied zwischen den sozialrechtlichen und den zivilrechtlichen Bestimmungen.

Rz. 20

Die sozialrechtliche Regelung in § 294a SGB V dient dazu, durch Schaffung einer gesetzlichen Übermittlungs- und Offenbarungsbefugnis den gesetzlichen Krankenkassen einen eigenen Anspruch auf Mitteilung von Krankheitsursachen und drittverursachten Gesundheitsschäden zu geben und den damit verbundenen Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung des Patienten und die korrespondierende ärztliche Schweigepflicht zu rechtfertigen. Sie verpflichtet u.a. Vertragsärzte, unaufgefordert den Krankenkassen Angaben über Ursachen und mögliche Verursacher mitzuteilen, wenn aus ihrer Sicht Hinweise auf drittverursachte Gesundheitsschäden vorliegen. Der verpflichtete Leistungserbringer muss also von sich aus oder ggf. auf Anforderung der Krankenkassen die erforderlichen Daten mitteilen, ohne dass eine Zustimmung oder Schweigepflichtentbindungserklärung des Versicherten erforderlich ist (vgl. KassKomm/Hess, SGB V, Stand: März 2007, § 294a Rz. 1 f.; Krauskopf/Schneider, Soziale Krankenversicherung, Pflegeversicherung, Stand: Februar 2009, § 294a SGB V Rz. 2 f., 8f., 12; Schultze-Zeu, a.a.O., 1053). Diese sozialrechtliche Mitteilungspflicht ist von dem nach § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X, §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB übergehenden zivilrechtlichen Einsichtsrecht zu unterscheiden, bei dem es sich nicht um ein eigenes Recht der Krankenkassen handelt, sondern um ein Einsichtsrecht, das nur dem Zweck dient, als Hilfsrecht eine Prüfung des eventuellen, auf die Krankenkassen übergegangenen Schadensersatzanspruchs des Geschädigten zu ermöglichen. Insoweit wird das informationelle Selbstbestimmungsrecht durch die nach den vorstehenden Ausführungen erforderliche tatsächliche oder mutmaßliche Einwilligung des Versicherten gewahrt. Die bei § 294a SGB V maßgebliche Erwägung des Gesetzgebers, für die Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten eine gesetzliche Grundlage zu schaffen (vgl. BT-Drucks. 15/1525, 146), gilt hier nicht.

Rz. 21

3. Nach den bisher vom Berufungsgericht getroffenen Feststellungen steht allerdings nicht fest, dass eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht und Einwilligung in die Einsicht in die Pflegedokumentationen durch die Klägerin vorliegt. Für das Berufungsgericht ist nämlich zweifelhaft, ob die Entbindung der Beklagten von der Schweigepflicht durch die bei der Klägerin versicherte Heimbewohnerin wirksam ist, weil diese hinsichtlich Ort, Zeit und Person desorientiert ist. Von seiner Rechtsauffassung her folgerichtig hat es darüber hinaus keine weiteren Feststellungen hinsichtlich der für eine wirksame Entbindung von der Schweigepflicht und Einwilligung in die Einsichtnahme erforderlichen Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Versicherten (vgl. MünchKomm/StGB/Ciernak, § 203 Rz. 57; Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 27. Aufl., § 203 Rz. 24 und Vorbem. §§ 32 ff. Rz. 39 ff. m.w.N.) getroffen. Eine abschließende Entscheidung ist dem erkennenden Senat somit hinsichtlich eines möglicherweise auf die Klägerin übergegangenen Anspruchs auf Einsichtnahme gem. § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB nicht möglich, weil das Berufungsgericht weitere Feststellungen zur Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Versicherten oder ggf. zu einer Schweigepflichtentbindungserklärung und Herausgabegenehmigung seitens eines gesetzlichen Betreuers nachholen muss.

Rz. 22

4. Eine solche wirksame Einwilligung des betroffenen Heimbewohners oder seines gesetzlichen Betreuers ist nicht entbehrlich, weil entgegen der Auffassung der Klägerin keine gesetzliche Grundlage für einen eigenen, originären Anspruch einer Krankenkasse auf Übermittlung der erforderlichen Unterlagen gegeben ist. § 294a SGB V scheidet als unmittelbare Anspruchsgrundlage aus, weil Pflegeeinrichtungen von dieser Vorschrift nicht erfasst sind. Eine im Schrifttum teilweise befürwortete analoge Anwendung dieser Vorschrift auf die Einsicht in Pflegedokumentationen (vgl. zum Meinungsstand Bergmann KH 2008, 825; Hauser KH 2005, 128; Kunz KHR 2009, 85; Marburger, Die Leistungen 2007, 129; Schultze-Zeu/Riehn VersR 2007, 467; Schultze-Zeu VersR 2009, 1050; Smentkowski VersR 2008, 465) kommt unabhängig von dem in erster Linie von den Sozialgerichten zu klärenden Ermächtigungsumfang dieser Vorschrift nicht in Betracht. Auch bei der Prüfung einer analogen Anwendung des § 294a SGB V ist das Grundrecht des Heimbewohners auf informationelle Selbstbestimmung zu beachten, das die Befugnis des Einzelnen gewährleistet, über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten grundsätzlich selbst zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1, 43; 78, 77, 84; 80, 367, 373; BVerfG NJW 2006, 1116, 1117). Dies erfordert eine gesetzliche Ermächtigung der Krankenkasse zur Einsicht in die in einer Pflegedokumentation vorhandenen, für den betroffenen Heimbewohner sensiblen Sozialdaten (vgl. § 67 Abs. 1 SGB X; Bergmann KH 2008, 825, 826; Kunz KHR 2009, 85, 86), wenn keine wirksame Einwilligung des Betroffenen oder seines gesetzlichen Betreuers vorliegt. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG) vom 14.11.2003 (BGBl. I 2003, 2190) die Vorschrift des § 294a SGB V in das Sozialgesetzbuch V - Gesetzliche Krankenversicherung - eingefügt, um für die Verpflichtung zur Übermittlung personenbezogener Daten an den Krankenversicherer ohne Zustimmung des Patienten eine gesetzliche Grundlage zu schaffen (vgl. BT-Drucks. 15/1525, 146). Eine entsprechende Mitteilungspflicht für Pflegeeinrichtungen wurde bisher nicht in das Sozialgesetzbuch aufgenommen, obwohl im Schrifttum auf die für Pflegeeinrichtungen bestehende Gesetzeslücke hingewiesen und dem Gesetzgeber zur Schließung dieser Lücke ein Gesetzesvorschlag unterbreitet worden ist (vgl. Schultze-Zeu/Riehn VersR 2007, 467, 470).

Rz. 23

Mithin kommt für die Klägerin nur ein möglicher Anspruch auf Einsicht in die Pflegedokumentation aus § 116 Abs. 1 Satz 1 SGB X i.V.m. §§ 401 Abs. 1 analog, 412 BGB in Betracht, für dessen Vorliegen weitere Feststellungen durch das Berufungsgericht erforderlich sind.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2327472

EBE/BGH 2010

FamRZ 2010, 972

BtPrax 2010, 174

JZ 2010, 345

MDR 2010, 692

MedR 2010, 851

VersR 2010, 971

ZfSH/SGB 2010, 295

PflR 2010, 257

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