Leitsatz (amtlich)

Bei der Bürgschaft auf erstes Anfordern steht dem Bürgen der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung nur zu, wenn die materielle Berechtigung des Gläubigers offensichtlich fehlt. Alle Streitfragen tatsächlicher, aber auch rechtlicher Art, deren Beantwortung sich nicht von selbst ergibt, sind nach der Zahlung in einem eventuellen Rückforderungsprozeß auszutragen.

 

Normenkette

BGB § 765

 

Verfahrensgang

OLG Celle (Urteil vom 15.04.1987)

 

Tenor

Auf die Rechtsmittel der Klägerin werden das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 15. April 1987 aufgehoben und das Urteil der 15. Zivilkammer des Landgerichts Hannover vom 11. April 1986 abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 191.970,53 DM nebst 8,25% Zinsen vom 29.08.1984 bis zum 17.09.1984, 8% Zinsen vom 18.09.1984 bis zum 24.10.1984 und 7,5% Zinsen seit dem 25.10.1984 zu zahlen.

Die Kosten des Rechtsstreits werden der Beklagten auferlegt.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Klägerin nimmt die beklagte Kreditversicherungsgesellschaft aus einer Vorauszahlungsbürgschaft in Anspruch.

Im August 1983 beauftragte die Klägerin die Firma … und …GmbH (im folgenden: Firma …) mit Arbeiten am Neubau des Arbeitsamts …. In dem Vertrag war eine Vorauszahlung der Klägerin in Höhe von 30% der Auftragssumme = 522.093,90 DM vorgesehen. Dazu wurde folgendes vereinbart:

„Für die Vorauszahlung ist als Sicherheit eine selbstschuldnerische Bürgschaft eines Kreditinstitutes oder eines in der Bundesrepublik Deutschland oder Berlin (West) zugelassenen Kreditversicherers nach beigefügtem Formblatt (EFB-Sich 3) zu stellen.

Die Vorauszahlung wird auf die nächstfälligen Zahlungen für durchgeführte und nachgewiesene Leistungen angerechnet und wird bei Tilgung freigegeben.”

In der von der Beklagten unterzeichneten formularmäßigen „Bürgschaftsurkunde” vom 19. September 1983 heißt es:

„Der Auftragnehmer … und der Auftraggeber … haben folgenden Vertrag geschlossen:

Der Auftragnehmer erhält eine Vorauszahlung.

Nach den Besonderen Vertragsbedingungen hat er als Sicherheit bis zur Tilgung der Vorauszahlung durch Anrechnung auf fällige Zahlungen eine Bürgschaft zu stellen.

Der vorgenannte Bürge übernimmt hiermit für den Auftragnehmer die selbstschuldnerische Bürgschaft und verpflichtet sich, auf erstes Anfordern jeden Betrag bis zu einer Gesamthöhe von 522.053,90 DM an den Auftraggeber zu zahlen.

…”

Nachdem die Vorauszahlung geleistet war und die Firma … mit den Arbeiten begonnen hatte, übersandte sie der Klägerin am 11. Januar 1984 eine erste Abschlagsrechnung über 191.970,53 DM, die als solche von der Klägerin nicht beanstandet wird. Am 18. Januar 1984 stellte die Firma … die Arbeiten ein und beantragte die Eröffnung des Vergleichsverfahrens. Ein Anschlußkonkursverfahren wurde mangels Masse nicht eröffnet. Die Klägerin kündigte am 22. Februar 1984 das Vertragsverhältnis und erklärte im August 1984 gegenüber der Forderung aus der Abschlagsrechnung die Aufrechnung mit einer Schadensersatzforderung von 559.415 DM.

Die von der Klägerin aus der Vorauszahlungsbürgschaft in Anspruch genommene Beklagte zahlte nur 330.083,37 DM und lehnte in Höhe des Betrages der Abschlagsrechnung eine Zahlung ab.

Diesen Betrag von 191.970,53 DM macht die Klägerin mit der Klage geltend. Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß es sich vorliegend um eine Bürgschaftsverpflichtung, nicht dagegen um eine Garantiezusage der Beklagten handelt. Wie der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden hat, ist die Klausel, daß „auf erstes Anfordern” gezahlt werden muß, mit dem Wesen einer Bürgschaftsverpflichtung vereinbar (zuletzt Senatsurteil v. 26. Februar 1987 – IX ZR 136/86, ZIP 1987, 624, 625 m.w.N.). Die vorliegende Bürgschaftsurkunde läßt klar erkennen, daß die Beklagte eine vom Bestand der Hauptschuld abhängige Bürgschaftsverpflichtung übernommen hat. Die Begriffe Bürgschaft und Bürge kommen in dem Text wiederholt vor. Nach dem eindeutigen Wortlaut der Urkunde hat die Beklagte die „selbstschuldnerische Bürgschaft” als Sicherheit für die von der Klägerin geleistete Vorauszahlung übernommen. Daß die Beklagte sich verpflichtet hat, die Bürgschaftssumme „auf erstes Anfordern” zu zahlen, hebt die Abhängigkeit zwischen Hauptschuld und Bürgschaftsverpflichtung nicht auf. Diese Klausel führt zwar dazu, daß der Bürge die geforderte Summe zunächst zahlen muß, ohne Einwendungen gegen die Hauptforderung geltend machen zu können. Nach der Zahlung kann er aber das Geleistete nach § 812 BGB zurückfordern, wenn seine Bürgenschuld wegen Nichtbestehens der Hauptforderung in Wirklichkeit nicht besteht (BGHZ 74, 244, 247 f.; Horn NJW 1980, 2153, 2155).

II.

Das Berufungsgericht meint, im vorliegenden Fall könne die Klägerin die Beklagte nach Treu und Glauben nicht auf einen Rückforderungsprozeß verweisen, weil bereits aufgrund des unstreitigen Sachverhalts feststehe, daß die Beklagte mit ihren Einwendungen gegen die Hauptforderung Erfolg habe. Die Vorauszahlung der Klägerin sei in Höhe von 191.970,53 DM auf die als solche unstreitige Abschlagsforderung der Firma … anzurechnen gewesen. Bei Fälligkeit dieser Forderung am 25. Januar 1984 sei die Klägerin nicht zu einer Zurückbehaltung berechtigt gewesen, weil ihr damals noch kein fälliger Gegenanspruch zugestanden habe. Da die Klägerin somit ihre Vorauszahlung in Höhe von 191.970,53 DM nicht von der Firma … habe zurückverlangen können, bestehe in dieser Höhe auch keine Bürgschaftsschuld der Beklagten.

Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

1. Durch die Bürgschaft auf erstes Anfordern sollen dem Gläubiger sofort liquide Mittel zugeführt werden, wenn er den Bürgschaftsfall für eingetreten hält. Um dieses Ziel zu erreichen, wird der Bürge, der eine solche Bürgschaft übernommen hat, bewußt mit seinen Einwendungen auf den Rückforderungsprozeß verwiesen. Das Recht des Gläubigers, sofortige Zahlung verlangen zu können, ohne seine materielle Berechtigung darlegen und beweisen zu müssen, findet seine Schranke nur im Falle des Mißbrauchs. Nur wenn die materielle Berechtigung des Gläubigers offensichtlich fehlt, steht dem Bürgen der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung zu (Senatsurteil v. 31. Januar 1985 – IX ZR 66/84, ZIP 1985, 470, 471; Horn a.a.O. S. 2156). Entsprechendes gilt für die Garantie auf erstes Anfordern: Ist es offensichtlich oder liquide beweisbar, daß trotz Vorliegens der formellen Voraussetzungen der materielle Garantiefall nicht eingetreten ist, so scheitert der Anspruch aus der Garantie am Einwand des Rechtsmißbrauchs (BGHZ 90, 287, 292). Dieser Einwand ist jedoch auf die Fälle zu beschränken, in denen die mißbräuchliche Ausnutzung einer formalen Rechtsstellung für jedermann klar ersichtlich ist. Alle Streitfragen tatsächlicher, aber auch rechtlicher Art, deren Beantwortung sich nicht von selbst ergibt, sind nach der Zahlung in einem eventuellen Rückforderungsprozeß auszutragen (BGH a.a.O. S. 294).

2. Legt man den vorstehend dargelegten Maßstab an das Verhalten der Klägerin an, so zeigt sich, daß ihr Zahlungsbegehren nicht rechtsmißbräuchlich ist. Nach dem Inhalt des Vertrages sollte die Vorauszahlung der Klägerin „auf die nächstfälligen Zahlungen für durchgeführte und nachgewiesene Leistungen” angerechnet werden. Die am 11. Januar 1984 angemeldete Abschlagsforderung wurde gemäß § 16 Nr. 1 Abs. 3 VOB/B nicht vor dem 25. Januar 1984 fällig. Bereits eine Woche vorher hatte die Firma … die Arbeiten eingestellt und Antrag auf Eröffnung des Vergleichsverfahrens gestellt. Ob die Firma … in dieser Situation noch eine Abschlagszahlung verlangen konnte und ob damit ihre Abschlagsforderung vom 11. Januar 1984 überhaupt noch am 25. Januar 1984 fällig wurde, erscheint durchaus zweifelhaft. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat entschieden, daß eine zahlungsunfähige und nur noch als Liquidationsgesellschaft fortbestehende Bauunternehmerin für bereits erbrachte Bauleistungen nicht mehr die vereinbarten Abschlagszahlungen verlangen kann (ZIP 1982, 322). Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Frankfurt muß ein Werkunternehmer, der infolge Vermögensverfalls einen Auftrag nicht zu Ende führen kann, eine Schlußabrechnung über die erbrachten Leistungen vornehmen; Abschlagszahlungen kann er nicht mehr verlangen, weil diese begrifflich die Fortsetzung und Beendigung der Arbeiten voraussetzen. Ingenstau/Korbion (VOB 10. Aufl. § 16 Teil B Rdnr. 13) stimmen dieser Entscheidung ausdrücklich zu. Auch sie stellen darauf ab, daß der Auftragnehmer Abschlagszahlungen nur verlangen kann, wenn er bereit und in der Lage ist, die Arbeiten fortzuführen. Ob diese Auffassung, für die nach Ansicht des. erkennenden Senats einiges spricht, zutrifft oder nicht, braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden. Es ist jedenfalls der Klägerin nicht zu verwehren, daß sie sich auf diesen Standpunkt stellt.

Wenn die Klägerin mit guten Gründen die Auffassung vertritt, die Firma … habe von ihr keine Abschlagszahlung verlangen können und von ihrer Vorauszahlung sei mithin bei Kündigung des Vertrages noch nichts verbraucht gewesen, so ist dies nicht als rechtsmißbräuchlich zu bezeichnen. Der Streit der Parteien darüber, ob die Vorauszahlung der Klägerin in Höhe von 191.970,53 DM durch Anrechnung auf die Abschlagsforderung der Firma … verbraucht worden ist, muß gegebenenfalls in einem Rückforderungsprozeß ausgetragen werden.

Das entspricht auch dem Zweck der von der Beklagten übernommenen Vorauszahlungsbürgschaft auf erstes Anfordern. Durch die Bürgschaft sollte vor allem sichergestellt werden, daß die Klägerin bei einem Scheitern der Vertragsdurchführung ihre bis dahin noch nicht durch berechtigte Forderungen der Auftragnehmerin verbrauchte Vorauszahlung sofort zurückerhält, ohne sich auf einen Streit über die Berechtigung der bisher geltend gemachten Forderungen einlassen zu müssen. Für den Fall des Scheiterns des Vertrages sollte die Klägerin nicht schlechter dastehen, als wenn sie die von ihr freiwillig geleistete Vorauszahlung nicht erbracht hätte. Wenn die Klägerin Gründe hatte, bis zur Kündigung des Vertrages am 22. Februar 1984 jegliche Zahlung zu verweigern, dann mußte sie in diesem Zeitpunkt auf die volle Bürgschaftssumme zurückgreifen dürfen. Denn ohne die von der Beklagten abgesicherte Vorauszahlung hätte sie bei dieser Sachlage bis zur Kündigung noch keine Leistung aus ihrem Vermögen erbracht gehabt. Ab der Kündigung konnte sie einer dann nur noch möglichen Schlußrechnung (vgl. BGH, Urt. v. 21. Februar 1985 – VII ZR 160/83, NJW 1985, 1840) ihre Schadensersatzforderung wegen Nichterfüllung des Vertrages entgegensetzen.

III.

Aus den dargelegten Gründen kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden. Da ein Rechtsmißbrauch nicht gegeben ist, kann die Klägerin Zahlung der restlichen Bürgschaftssumme verlangen. Gegen die Berechtigung der von der Klägerin verlangten Zinsen hat die Beklagte keine Einwendungen erhoben.

 

Fundstellen

NJW 1988, 2610

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