Leitsatz (amtlich)

Bestehen bei einer Zwillingsschwangerschaft für Mutter oder Kind im Falle eines Zuwartens erhebliche Risiken, so ist über die Alternative einer primären Schnittentbindung aufzuklären.

 

Normenkette

BGB § 823

 

Verfahrensgang

OLG Bamberg (Urteil vom 26.05.2003; Aktenzeichen 4 U 230/00)

LG Würzburg (Urteil vom 05.10.2000)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des 4. Zivilsenats des OLG Bamberg v. 26.5.2003 aufgehoben und das Urteil des LG Würzburg v. 5.10.2000 abgeändert.

Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Schmerzensgeldes ist gegen den Beklagten zu 2) dem Grunde nach gerechtfertigt.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

In diesem Umfang werden die Berufungen der Beklagten zurückgewiesen.

Die Sache wird zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

Die Mutter der Klägerin wurde am 14.6.1991 wegen grenzwertiger Hypertonie und der Risiken bei EPH-Gestose und einer Zwillingsschwangerschaft stationär in die Universitäts - Frauenklinik, deren Träger der Beklagte zu 2) ist, aufgenommen. Sie schloss mit dem Beklagten zu 1) einen Behandlungsvertrag als Privatpatientin. Der errechnete Entbindungstermin war der 8.7.1991.

Die Mutter der Klägerin war bei einem Gespräch am 24.6.1991 (38. Schwangerschaftswoche) mit einem "zunächst expektativen Vorgehen" einverstanden. Am 3.7.1991 wurde sie nach mehreren CTG-Ableitungen um 19.45 Uhr in den Kreißsaal gebracht. Ab 21.00 Uhr zeigte sich bei einer Ultraschalluntersuchung kaum Fruchtwasser, die Herzfrequenz des einen (rechten) Zwillings war nicht darstellbar. Um 21.30 Uhr entschloss sich der geburtsleitende Arzt zur Schnittentbindung. Die Klägerin wurde als erster Zwilling aus der Beckenendlage um 21.58 Uhr lebend, der Zweite (rechte) ebenfalls weibliche Zwilling um 21.59 Uhr tot mit Leichenflecken geboren. Bei der Klägerin besteht infolge der erlittenen Asphyxie und Anämie eine schwere zerebrale Bewegungsstörung, sie ist fast blind und leidet an einer schlecht behandelbaren Epilepsie und einer globalen mentalen Entwicklungsverzögerung. Sie erlitt ein Hirnödem mit Hirnsubstanzverlust und ist infolge ihrer Mehrfachbehinderung schwer pflegebedürftig. Als Todesursache für den tot geborenen zweiten Zwilling wurde ein intrauteriner Fruchttod bei Asphyxie festgestellt mit Verdacht auf feto-fetale Transfusion. Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 2) auf Zahlung von Schmerzensgeld und beide Beklagte auf Feststellung ihrer materiellen Schadensersatzpflicht in Anspruch.

Das LG hat den Beklagten zu 2) verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 300.000 DM zu zahlen; ferner hat es die gesamtschuldnerische Ersatzpflicht der Beklagten für allen materiellen Schaden festgestellt, der der Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind. Hiergegen haben die Beklagten Berufung und die Klägerin Anschlussberufung wegen einer Erhöhung des Schmerzensgeldes eingelegt. Das OLG hat die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

I.

Das Berufungsgericht führt in dem angefochtenen Urteil aus:

Die den Beklagten vorgeworfenen Fehler seien weitgehend nicht bewiesen; soweit ein Fehler vorliegen könnte, lasse sich jedenfalls seine Ursächlichkeit für den Gesundheitsschaden der Klägerin nicht feststellen. Eine Beweislastumkehr unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers komme nicht in Betracht. Soweit der Privatgutachter Prof. Dr. Re. eine Schwangerschaftsbeendigung durch eine primäre Schnittentbindung in der 38. Schwangerschaftswoche unter Hinweis auf die drohende Plazentainsuffizienz gefordert habe, könne eine solche nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen bis zum Nachmittag/Abend des 3.7.1991 ausgeschlossen werden. Zudem könne das Unterlassen einer primären Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38. Schwangerschaftswoche und führendem ersten Zwilling in Beckenendlage nicht eo ipso als Behandlungsfehler gewertet werden.

Bei dem Vorwurf der unterlassenen Aufklärung der Mutter der Klägerin über die Vor- und Nachteile einer Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens nach Aufnahme in die stationäre Behandlung handele es sich nicht um eine Einwilligungsaufklärung, sondern um eine "Selbstbestimmungsaufklärung (therapeutische Aufklärung)". Diese sei Teil der Behandlung; ein Verstoß gegen sie stelle deshalb einen Behandlungsfehler, nicht aber eine Aufklärungspflichtverletzung dar. Einen solchen Verstoß habe die Klägerin nicht bewiesen. Insoweit stünden sich die Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin als Partei gegenüber, ohne dass der Senat die Richtigkeit der einen oder anderen Version bejahen könne.

II.

Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.

1. Ersichtlich geht das Berufungsgericht davon aus, dass die Mutter der Klägerin spätestens bei dem Gespräch am 24.6.1991 über die Vor- und Nachteile einer primären Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens hätte aufgeklärt werden müssen. Dieser rechtliche Ansatz wird von den Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Er entspricht auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats.

Hiernach ist eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit erforderlich, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (BGH, Urt. v. 22.9.1987 - VI ZR 238/86, BGHZ 102, 17 [22] = MDR 1988, 216; Urt. v. 15.2.2000 - VI ZR 48/99, BGHZ 144, 1 [10] = MDR 2000, 1012 = MDR 2000, 701; Urt. v. 21.11.1995 - VI ZR 329/94, MDR 1996, 366 = VersR 1996, 233). Gemäß diesem allgemeinen Grundsatz braucht der geburtsleitende Arzt zwar in einer normalen Entbindungssituation, bei der die Möglichkeit einer Schnittentbindung medizinisch nicht indiziert und deshalb keine echte Alt. zur vaginalen Geburt ist, ohne besondere Veranlassung die Möglichkeit einer Schnittentbindung nicht zur Sprache bringen. Anders liegt es aber, wenn für den Fall, dass die Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernst zu nehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt (BGH, Urt. v. 6.12.1988 - VI ZR 132/88, BGHZ 106, 153 [157] = MDR 1989, 437; Urt. v. 16.2.1993 - VI ZR 300/91, MDR 1993, 741 = VersR 1993, 703 [704]; Urt. v. 19.1.1993 - VI ZR 60/92, MDR 1993, 742 = VersR 1993, 835 [836]). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Risiken für die Mutter oder das Kind entstehen, weil die Mutter die natürliche Sachwalterin der Belange auch des Kindes ist (BGH, Urt. v. 6.12.1988 - VI ZR 132/88, BGHZ 106, 153 [157 f.] = MDR 1989, 437).

Hierzu verweist die Revision auf die Ausführungen des Gerichtssachverständigen, wonach eine primäre Schnittentbindung als echte Alternative in Betracht gekommen ist. Zudem ergibt sich aus dem Berufungsurteil, dass der Gerichtssachverständige in einer solchen Situation eine primäre Schnittentbindung als den zu bevorzugenden Modus angesehen hat. Das Unterlassen einer Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38. Schwangerschaftswoche und führendem ersten Zwilling in Beckenendlage hat das Berufungsgericht nur deswegen nicht "eo ipso" als Behandlungsfehler gewertet, weil damit nicht gegen eindeutig festgelegte Behandlungskriterien verstoßen worden sei. Unter diesen Umständen ist gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass eine Aufklärung über die Behandlungsalternative erfolgen musste, aus revisionsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden.

2. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist auch nicht zu beanstanden, dass das Berufungsgericht keine Überzeugung gewinnen konnte, ob eine Aufklärung erfolgt ist. Dessen auf einer sorgfältigen Abwägung der Aussagen des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin beruhende Beweiswürdigung lässt keine revisionsrechtlich relevanten Fehler erkennen. Zwar dürfen an den Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung keine übertriebenen und unbilligen Anforderungen gestellt werden. Solche lassen sich aber nicht daraus ableiten, dass das Berufungsgericht nicht der Aussage des Zeugen Prof. Dr. R. den Vorzug gegenüber der detaillierten Darstellung der Mutter der Klägerin gegeben hat, zumal dieser nur pauschal erklärt hat, es sei Usus gewesen, die Patientinnen entsprechend dem Inhalt der mündlichen Erläuterung des Sachverständigen zu informieren. Unter diesen Umständen lässt die Wertung des Tatsachengerichts im konkreten Fall Rechtsfehler nicht erkennen.

3. Mit Recht rügt jedoch die Revision, dass das Berufungsgericht hinsichtlich der Frage, ob die gebotene Aufklärung erfolgte, die Beweislast verkannt hat.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich nicht um einen Fall der sog. Sicherheits- oder therapeutischen Aufklärung, also der ärztlichen Beratung über ein therapierichtiges Verhalten zur Sicherstellung des Behandlungserfolgs und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. In diesem Bereich wären ärztliche Versäumnisse allerdings als Behandlungsfehler anzusehen, so dass sie den von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Regeln folgen und die Klägerin - wie vom Berufungsgericht angenommen - beweisen müsste, dass die gebotene Aufklärung unterblieben ist oder unzureichend war (Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rz. B 95 ff.; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl. 2002, Rz. 325, 574 ff.). Bei der im Streitfall maßgebenden Frage einer Aufklärung über eine primäre Schnittentbindung als Behandlungsalternative zu der durchgeführten zunächst abwartenden Behandlung handelt es sich jedoch um einen Fall der sog. Eingriffs- oder Risikoaufklärung, die der Unterrichtung des Patienten über das Risiko des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens dient, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die Beweislast für die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht liegt beim Arzt (BGH, Urt. v. 22.5.2001 - VI ZR 268/00, MDR 2001, 1130 = BGHReport 2001, 660 = VersR 2002, 120 [121]; Urt. v. 29.9.1998 - VI ZR 268/97, MDR 1999, 37 = VersR 1999, 190 [191]; Urt. v. 12.11.1991 - VI ZR 369/90, MDR 1992, 651 = VersR 1992, 237 [238]; Urt. v. 8.1.1985 - VI ZR 15/83, MDR 1985, 923 = VersR 1985, 361 [362]; Urt. v. 21.9.1982 - VI ZR 302/80, MDR 1983, 219 = VersR 1982, 1193 [1194]).

4. Auf dieser Verkennung der Beweislast beruht das angefochtene Urteil. Das Berufungsgericht konnte sich auf Grund der Beweisaufnahme keine Überzeugung bilden, ob die Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. oder die der Mutter der Klägerin hinsichtlich einer erfolgten Aufklärung über die Vor- und Nachteile einer Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens zutreffen. Das ergibt sich entgegen der Auffassung der Revisionsbeklagten eindeutig aus der abschließenden Beweiswürdigung in den Gründen des angefochtenen Urteils. Als Folge dieses "non liquet" ist nach den oben dargelegten Grundsätzen davon auszugehen, dass die erforderliche Aufklärung über die Behandlungsalternative nicht erfolgt ist.

Soweit die Beklagten einwenden, eine Verletzung der Aufklärungspflicht sei für die Schädigung der Klägerin nicht kausal geworden, kann dem nicht gefolgt werden, ohne dass es hierzu noch tatsächlicher Feststellungen bedarf. Die Beklagten gehen selbst davon aus, dass die Schädigung der Klägerin erst am 3.7.1991 erfolgt sei. Das steht in Einklang mit den Ausführungen des Gerichtssachverständigen. Danach ist der rechte Zwilling nämlich erst in den späten Nachmittagsstunden des 3.7.1991 verstorben, wobei die Klägerin höchstwahrscheinlich erst nach dem Tod des rechten Zwillings geschädigt worden sei. Hierzu verweist die Revision auf die Aussage des Sachverständigen, man könne mit Sicherheit sagen, dass eine Schnittentbindung noch am 3.7.1991 gegen etwa 16.00 Uhr "das schwere Leid von den Kindern genommen hätte". Zu diesem Zeitpunkt hätte jedoch die erforderliche Aufklärung längst erfolgt sein müssen.

Erfolglos machen die Beklagten geltend, dass die Aufklärung erst am 3.7.1991 geboten gewesen sei. Wie eingangs dargelegt, nimmt das Berufungsgericht an, dass die Aufklärung bereits am 24.6.1991 erfolgen musste, bevor die Entscheidung für ein "zunächst expektatives Vorgehen" getroffen wurde. Das erweist sich unter den Umständen des Streitfalls als zutreffend und entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats. Hiernach muss die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, dass der Patient, hier die Mutter der Klägerin, durch hinreichende Abwägung der für und gegen die Behandlungsalternativen sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann (BGH, Urt. v. 25.3.2003 - VI ZR 131/02, BGHReport 2003, 807 = MDR 2003, 931 = GesR 2003, 264 = VersR 2003, 1441 [1443]; Urt. v. 17.3.1998 - VI ZR 74/97, MDR 1998, 716 = VersR 1998, 766 [767]; Urt. v. 4.4.1995 - VI ZR 95/94, MDR 1995, 908 = VersR 1995, 1055 [1056 f.]; Urt. v. 14.6.1994 - VI ZR 178/93, MDR 1995, 159 = VersR 1994, 1235 [1236]; Urt. v. 7.4.1992 - VI ZR 192/91, MDR 1992, 748 = VersR 1992, 960 f.).

5. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen kommt es auf die weiteren Rügen der Revision und insbes. auf das Vorliegen eines ursächlichen Behandlungsfehlers nicht mehr an. Schon wegen des oben dargestellten Aufklärungsfehlers haftet nämlich der Beklagte zu 2) hinsichtlich des geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde nach und haften beide Beklagten hinsichtlich des Feststellungsanspruchs als Gesamtschuldner für den Schaden der Klägerin.

III.

Bei dieser Sachlage kann der erkennende Senat über den Grund des Schmerzensgeldanspruchs und über den Feststellungsantrag entscheiden. Eine abschließende Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes kommt hingegen nicht in Betracht, weil das Berufungsgericht - aus seiner

Sicht folgerichtig - keine Feststellungen zur Höhe und insbes. zur Anschlussberufung der Klägerin getroffen hat. Insoweit ist die Sache daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1248755

NJW 2004, 3703

BGHR 2005, 161

EBE/BGH 2004, 3

FamRZ 2005, 93

ArztR 2005, 303

MDR 2005, 146

VersR 2005, 227

GesR 2005, 21

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