Leitsatz (amtlich)

An der vom Reichsgericht entwickelten und vom Bundesgerichtshof übernommenen Rechtsprechung, wonach das die Fortsetzungstat kennzeichnende Merkmal der Gesamtvorsatz des Täters ist (vgl. u.a. BGHSt 1, 313, 315), wird unter Ablehnung der von der Wissenschaft teilweise vertretenen Lehre von dem sog. Fortsetzungsvorsatz uneingeschränkt festgehalten.

 

Verfahrensgang

LG Augsburg (Entscheidung vom 07.10.1952)

 

Tenor

Auf die Revisionen der beiden Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Augsburg vom 7. Oktober 1952 samt den Feststellungen aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel; an das Landgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

 

Gründe

1.)

Verfahrensrügen:

a)

Die beiden Beschwerdeführer machen mit Recht die Verletzung der §§ 338 Nr. 1 StPO, 51 Abs. 1 GVG geltend.

Bei der Hauptverhandlung vom 7. Oktober 1952 haben die Schöffen Paul L. und Alfred Sc. mitgewirkt. Wie die Sitzungsniederschrift ergibt, waren sie am 10. April 1951 vereidigt worden. Nach § 51 Abs. 1 Satz 2 GVG galt diese Vereidigung aber nur für die Dauer des Geschäftsjahres 1951, also bis Ende 1951; für das Geschäftsjahr 1952 hätten die beiden Schöffen bei ihrer ersten Dienstleistung in diesem Jahr von neuem vereidigt werden müssen. Das ist nicht geschehen. Die Strafkammer war daher nicht vorschriftsmässig besetzt, so dass der unbedingte Revisionsgrund des § 338 Nr. 1 StPO durchgreift (vgl. BGHSt 3, 175 und das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats 1 StR 90/53 vom 10. März 1953).

b)

Mit Recht rügt der Beschwerdeführer Walter T. ferner die Verletzung des § 247 Abs. 1 Satz 2 StPO.

Ausweislich der Sitzungsniederschrift hat das Landgericht den Beschwerdeführer für die Dauer der Vernehmung der Mitangeklagten Felicitas T. aus dem Sitzungssaal abtreten lassen. Während seiner Abwesenheit erklärte sich die. Mitangeklagte zur Sache, wobei ihr verschiedene Vorhalte aus den Akten und Beiakten gemacht wurden und ihr Verteidiger einen Beweisantrag stellte. Nach seiner Wiederzulassung wurde der Beschwerdeführer sofort zur Sache vernommen. Anschliessend wurde nochmals die Mitangeklagte Felicitas T. gehört und erst hierauf dem Beschwerdeführer das Wesentliche dessen mitgeteilt, was während seiner Abwesenheit ausgesagt und verhandelt worden war.

Dieses Verfahren widerspricht dem § 247 Abs. 1 Satz 2 StPO. Nach dieser Vorschrift ist der Angeklagte, dessen zeitweilige Entfernung das Gericht nach § 247 Abs. 1 Satz 1 angeordnet hat, über das in seiner Abwesenheit Verhandelte zu unterrichten, "sobald" er wieder vorgelassen worden ist, d.h. vor jeder weiteren Verfahrenshandlung (vgl. RGSt 32, 120; RG JW 1931, S 2034 Nr. 22; 1934, S 1365 Nr. 27; HRR 1938 Nr. 498; BGH NJW 1953, S 515 Nr. 20). Der Beschwerdeführer hätte deshalb nicht erst, nachdem er sich zur Anklage geäussert hatte und die Mitangeklagte nochmals gehört worden war, über die erste Aussage der Mitangeklagten und das während seiner Abwesenheit sonst Verhandelte unterrichtet werden dürfen; vielmehr hätte das unmittelbar nach seinem Wiedereintritt in den Sitzungssaal geschehen müssen.

Ob die Verurteilung des Beschwerdeführers auf diesem Verfahrensverstoss beruht (§ 337 StPO), kann unentschieden bleiben, da das Urteil ohnehin wegen der Verletzung des § 338 Nr. 1 StPO aufgehoben werden muss.

Aus demselben Grunde bedarf es auch keiner Entscheidung darüber, ob die Beschwerdeführerin Felicitas T., die sich ebenfalls auf die Verletzung des § 247 Abs. 1 Satz 2 StPO berufen hat, aus diesem Verstoss überhaupt ein eigenes Beschwerderecht herleiten (vgl. RGSt 32, 120, 122) und ob bejahendenfalls die Entscheidung durch den Verfahrensfehler zu ihrem Nachteil beeinflusst sein kann.

c)

Auf die übrigen Verfahrensrügen, zu denen auch die in der Revisionsbegründungsschrift des Beschwerdeführers Walter T. irrtümlich als Sachrüge bezeichnete Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) gehört, braucht nicht des näheren eingegangen zu werden. Die beiden Angeklagten werden in der neuen Hauptverhandlung Gelegenheit haben, entsprechende Beweisanträge zu stellen.

Zu der den Zeugen B. betreffenden Rüge der Verletzung des § 53 Abs. 1 Nr. 1 StPO wird im übrigen bemerkt, dass Missionare der "Zeugen Jehovas" schon deshalb keine Geistlichen im Sinne dieser Gesetzesbestimmung sind, weil ihre Sekte nicht zu den staatlich anerkannten öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaften gehört.

2.)

Sachbeschwerden:

a)

Die Sachrüge des Angeklagten Walter T. hätte keinen Erfolg haben können.

Soweit sich der Beschwerdeführer allgemein dagegen wendet, dass das Landgericht den Aussagen der Mitangeklagten Felicitas T. vor der Polizei Glauben geschenkt hat, greift er in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung des Landgerichts an.

Dass sich der Beschwerdeführer der in Mittäterschaft mit der Mitangeklagten Felicitas T. begangenen Abtreibung nach §§ 218 Abs. 3, 47 StGB schuldig gemacht hat, hat das Landgericht entgegen der Meinung der Revision mit rechtlich bedenkenfreier Begründung dargetan. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer die Leibesfrucht der Mitangeklagten im Küchenherd verbrannt hat, kann nicht als erfahrungswidrig bezeichnet werden.

Zur Verurteilung wegen fortgesetzter Blutschande mit einer Verwandten absteigender Linie (§ 173 Abs. 1 StGB) hat der Beschwerdeführer keine näheren sachlichrechtlichen Ausführungen gemacht. Das Urteil lässt insoweit auch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil erkennen. Die Annahme eines Fortsetzungszusammenhangs zwischen allen Einzelfällen des blutschänderischen Verkehrs beschwert ihn nicht. Das Landgericht wird jedoch in der neuen Hauptverhandlung unter Berücksichtigung der Entscheidung BGHSt 2, 163, 166 ff zu prüfen haben, ob und inwieweit Tatmehrheit vorliegt; dabei wird die Vorschrift des § 358 Abs. 2 StPO zu beachten sein.

Die Strafzumessung gibt zu keinem Bedenken Anlass.

b)

Die Beschwerdeführerin Felicitas T. hat nur die allgemeine Sachrüge erhoben.

Soweit sich die Sachbeschwerde gegen die Verurteilung wegen Abtreibung (§ 218 Abs. 1 StGB) richtet, hätte sie nicht durchzugreifen vermocht.

Dagegen gibt die Verurteilung wegen fortgesetzter Blutschande mit einem Verwandten aufsteigender Linie (§ 173 Abs. 1 StGB) zu durchgreifenden Bedenken Anlass.

Das Landgericht hat zwischen sämtlichen - rechtlich zutreffend als Blutschande gewürdigten - Einzelhandlungen Fortsetzungszusammenhang angenommen, obwohl die Beschwerdeführerin nach den Urteilsfeststellungen wiederholt den Entschluss fasste, das blutschänderische Treiben mit ihrem Vater zu beenden, und sich zufolge dieses Entschlusses wochenlang und sogar Monate hindurch dem Verlangen des Mitangeklagten versagte. Dass unter diesen Umständen nicht davon gesprochen werden kann, die Beschwerdeführerin habe auf Grund eines vor oder spätestens bei der Verwirklichung der ersten Teilhandlung gefassten, alle späteren Einzelfälle der Blutschande ergreifenden Gesamtvorsatzes gehandelt, hat das Landgericht nicht verkannt. Es hat stattdessen die Annahme einer einheitlichen fortgesetzten Handlung im Anschluss an die von Olshausen (Anm. 18 vor § 73), Schönke (Anm. III 1 a vor § 73), Schwarz (Anm. 3 A a vor § 73) u.A. vertretene Lehre von dem sog. Fortsetzungsvorsatz damit begründet, dass sich nach der natürlichen Auffassung des Sachverhalts die Einzelhandlungen nicht als selbständige Straftaten, sondern als unselbständige Tatteile eines innerlich zusammenhängenden Ganzen darstellten, deren jeder auf Grund eines sich jeweils von neuem entwickelnden Fortsetzungsvorsatzes begangen worden sei. Dieser Rechtsansicht kann nicht beigepflichtet werden. Auch für Fälle der vorliegenden Art muss, wenn es auch schwierig sein mag, genaue Feststellungen über die Zahl der im Verhältnis zueinander selbständigen blutschänderischen Einzelhandlungen bezw. über die in sich fortgesetzten Tatgruppen zu treffen, an der schon von dem Reichsgericht vertretenen und vom Bundesgerichtshof übernommenen Rechtsprechung (vgl. u.a. BGHSt 1, 313, 15) festgehalten werden, wonach das die Fortsetzungstat kennzeichnende Merkmal der Gesamtvorsatz des Täters ist. Hieran vermag auch das von dem Landgericht hervorgehobene Bedenken nichts zu ändern, dass der zunächst widerstrebende, deshalb sittlich in der Regel höher stehende Beteiligte, der von Fall zu Fall verführt werden müsse, einen ungünstigeren Schuldspruch davontrage und unter Umständen eine höhere Strafe erhalte als der mit Gesamtvorsatz handelnde Teilnehmer. Die zeitlich ohne grösseren Zwischenraum aufeinanderfolgenden Einzelhandlungen der Beschwerdeführerin werden jeweils unbedenklich als eine fortgesetzte Tat betrachtet werden können. Im übrigen muss es in solchen Fällen, in denen einen nicht mit Gesamtvorsatz handelnden Täter trotz der äusseren Form des Schuldspruchs kein so schwerer Schuldvorwurf wie den von einem Gesamtvorsatz geleiteten Mitbeteiligten trifft, dem pflichtmässigen Ermessen des verständigen Tatrichters überlassen bleiben, bei der Festsetzung der Strafen gegen die Tatbeteiligten einen gerechten Ausgleich zu schaffen. Dafür lassen die gesetzlichen Vorschriften nach den Erfahrungen der Rechtspflege auch ausreichenden Spielraum.

Durch das Verfahren des Landgerichts ist die Angeklagte Felicitas T. möglicherweise auch beschwert. Bestand zwischen den vor dem 1. Oktober 1947 und den nachher begangenen Verfehlungen der Beschwerdeführerin das Verhältnis der Tatmehrheit, so wäre hinsichtlich der Einzeltaten oder fortgesetzten Handlungen, die vor dem fünf Jahre vor der ersten richterlichen Handlung zurückliegenden Zeitpunkt oder vor dem 1. Oktober 1947 beendet waren, die Einstellung des Verfahrens teils wegen Verjährung, teils wegen Straffreiheit nach dem Bayer. Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit vom 24. Januar 1948 in Frage gekommen. Diesem Ergebnis steht es nicht gleich, wenn das Landgericht, wie geschehen, die vor dem 1. Oktober 1947 liegenden Einzelhandlungen in den Schuldspruch einbezogen und nur bei der Strafbemessung ausser Betracht gelassen hat.

In der neuen Hauptverhandlung wird das Landgericht hiernach auch dann, wenn die beiden Angeklagten nach wie vor bestreiten, miteinander Blutschande getrieben zu höben, die Zahl und, soweit erforderlich, auch die jeweilige Zeit der im Verhältnis zueinander selbständigen Einzelfälle oder fortgesetzten Taten der Beschwerdeführerin unter Heranziehung anderweitiger Beweismittel feststellen müssen.

 

Fundstellen

Haufe-Index 3018510

NJW 1953, 1112-1113 (Volltext mit amtl. LS)

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