Leitsatz (amtlich)

Die der beklagten Partei durch die Einreichung einer Anwaltsbestellung nach Klagerücknahme entstandenen Kosten sind erstattungsfähig i.S.d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, wenn sie sich bei der Einreichung in nicht vorwerfbarer Unkenntnis von der Rücknahme der Klage befunden hat (im Anschluss an BGH, Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, NJW 2018, 1403; Beschluss vom 18.12.2018 - , NJW-RR 2019, 381).

Vertritt der Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit mehrere Personen und berechnet sich seine Vergütung nach Wertgebühren, erfolgt die Deckelung der Erhöhung durch eine Begrenzung auf einen Gebührensatz von 2,0; dass die Erhöhung das Doppelte der Ausgangsgebühr übersteigt, ist unschädlich.

 

Normenkette

ZPO § 91 Abs. 1 S. 1; RVG VV Nr. 1008 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LG Stuttgart (Beschluss vom 16.08.2017; Aktenzeichen 19 T 172/17)

AG Backnang (Entscheidung vom 21.02.2017; Aktenzeichen 4 C 394/16 WEG)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des LG Stuttgart - 19. Zivilkammer - vom 16.8.2017 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 1.033,40 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft. Der Kläger reichte am 3.6.2016 bei dem AG eine Beschlussanfechtungsklage gegen die übrigen Wohnungseigentümer ein. Mit am 8.7.2016 bei dem AG eingegangenem Schriftsatz nahm er die Klage zurück. Nachdem am 9.7.2016 dem Verwalter der Wohnungseigentümergemeinschaft die Klage nebst Terminsverfügung zugestellt worden war, bestellte sich mit Schriftsatz vom 11.7.2016, eingegangen bei dem AG am 13.7.2016, für die Beklagten deren Prozessbevollmächtigte. Am 14.7.2016 wurde dem Verwalter der Klagerücknahmeschriftsatz zugestellt. Mit Beschluss vom 2.8.2016 wurden die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt.

Rz. 2

Auf Antrag der Beklagten hat das AG (Rechtspfleger) die von dem Kläger an die Beklagten zu erstattenden Kosten auf 1.033,40 EUR nebst Zinsen festgesetzt. Hierin enthalten sind eine 0,8 Verfahrensgebühr gem. Nr. 3100, 3101 RVG-VV und eine 2,0 Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 RVG-VV. Die von dem Kläger hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde hat das LG zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt der Kläger die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Zurückweisung des Kostenfestsetzungsantrags der Beklagten.

II.

Rz. 3

Das Beschwerdegericht ist der Auffassung, dass die von dem AG festgesetzten Kosten erstattungsfähig seien. Notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO seien die Kosten für solche Maßnahmen, die im Zeitpunkt ihrer Vornahme objektiv erforderlich und geeignet zur Rechtsverteidigung erschienen. Das sei vom Standpunkt einer verständigen und wirtschaftlich vernünftigen Partei aus zu beurteilen, wobei grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Vornahme der kostenverursachenden Handlung abzustellen sei. Dass die Beauftragung der Beklagtenvertreterin am 11.7.2016 und damit nach Eingang der Klagerücknahme bei Gericht erfolgt sei, stehe der Erstattungsfähigkeit der hierdurch entstandenen Kosten nicht entgegen. Entgegen der Auffassung des III. Zivilsenats des BGH in dem Beschluss vom 25.2.2016 (, BGHZ 209, 120 Rz. 10) sei die Notwendigkeit der Kostenverursachung nicht rein objektiv zu bestimmen. Nur wenn die Beklagtenseite Kenntnis von der Rücknahme gehabt habe, sei die Beauftragung eines Anwalts für eine wirtschaftlich vernünftig denkende Partei objektiv nicht mehr erforderlich.

III.

Rz. 4

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde (§§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 575 ZPO) ist nicht begründet. Das Beschwerdegericht bejaht die Erstattungsfähigkeit der dem Beklagten zuerkannten 0,8 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100, 3101 RVG-VV sowie der 2,0 Erhöhungsgebühr nach Nr. 1008 RVG-VV zu Recht.

Rz. 5

1. Die seitens der Prozessbevollmächtigten der Beklagten erbrachte anwaltliche Tätigkeit war trotz der zuvor erfolgten Klagerücknahme notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

Rz. 6

a) Nach der Rechtsprechung des XII. und des VI. Zivilsenats des BGH (BGH, Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, NJW 2018, 1403 Rz. 24; s. auch bereits Beschl. v. 25.1.2017 - XII ZB 447/16, FamRZ 2017, 365 Rz. 22 zu § 80 FamFG; Beschl. v. 10.4.2018 - VI ZB 70/16, VersR 2018, 1469 Rz. 10), die der Senat für überzeugend hält, ist Maßstab für die Notwendigkeit von Kosten zur Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung i.S.d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO, ob eine verständige und wirtschaftlich vernünftig denkende Partei die Kosten auslösende Maßnahme im damaligen Zeitpunkt als sachdienlich ansehen durfte. Abzustellen ist mithin auf die Sicht der Partei in der konkreten prozessualen Situation und dann zu beurteilen, ob ein objektiver Betrachter aus diesem Blickwinkel die Sachdienlichkeit bejahen würde. Die Notwendigkeit bestimmt sich daher aus der "verobjektivierten" ex ante-Sicht der jeweiligen Prozesspartei und nicht nach einem rein objektiven Maßstab (BGH, Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, NJW 2018, 1403 Rz. 24). Deshalb sind Kosten, die der Rechtsmittelgegner in nicht vorwerfbarer Unkenntnis von der Rücknahme des Rechtsmittels verursacht hat und als sachdienlich ansehen durfte, notwendig i.S.d. § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO (BGH, Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, NJW 2018, 1403 Rz. 25 ff.; Beschl. v. 10.4.2018 - VI ZB 70/16, VersR 2018, 1469 Rz. 10).

Rz. 7

Aus der Rechtsprechung des III. Zivilsenats des BGH ergibt sich nichts anderes. Dieser hat nämlich auf eine entsprechende Anfrage des XII. Zivilsenats mitgeteilt, in der - von dem Beschwerdegericht als Anlass für die Zulassung der Rechtsbeschwerde genommenen - Entscheidung vom 25.2.2016 (, BGHZ 209, 120) nicht auf einen rein objektiven Maßstab abgestellt zu haben. Entscheidend sei, ob die konkrete Maßnahme aus der Perspektive einer vernünftigen und sparsamen Partei als objektiv geeignet erscheine (vgl. die Wiedergabe der Antwort des III. BGH in dem Beschl. v. 7.2.2018 - XII ZB 112/17, NJW 2018, 1403 Rz. 30). Soweit der I. Zivilsenat des BGH bislang die Notwendigkeit von Kosten der Rechtsverteidigung i.S.d. § 91 ZPO nach einem rein objektiven Maßstab beurteilt hat (vgl. BGH, Beschl. v. 23.11.2006 - I ZB 39/06, NJW-RR 2007, 1163 Rz. 17; Beschl. v. 5.10.2017 - I ZB 112/16, FamRZ 2018, 620 Rz. 10), hält er daran, wie er auf Anfrage des Senats mitgeteilt hat, nicht mehr fest.

Rz. 8

b) Geht es - wie hier - um die Erstattungsfähigkeit von Kosten eines Beklagten, die nach der Rücknahme der Klage entstanden sind, kann nichts anderes gelten als in den Fällen einer Rechtsmittelrücknahme. Deshalb sind die einer beklagten Partei durch die Einreichung einer Anwaltsbestellung nach Klagerücknahme entstandenen Kosten erstattungsfähig, wenn sie sich bei der Einreichung in nicht vorwerfbarer Unkenntnis von der Rücknahme der Klage befunden hat (vgl. auch BGH, Beschl. v. 18.12.2018 - VI ZB 2/18, NJW-RR 2019, 381 Rz. 8).

Rz. 9

c) Hier kann den Beklagten nicht vorgeworfen werden, dass sie die Rücknahme der Klage im Zeitpunkt der Kosten auslösenden Mandatierung ihrer Prozessbevollmächtigten nicht kannten. Der Rücknahmeschriftsatz ist dem Verwalter erst nach der Mandatierung zugestellt worden. Dass die Beklagten oder der Verwalter aufgrund sonstiger Umstände bereits vor der Mandatierung Kenntnis von der Rücknahme hatten oder hätten haben müssen, hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt und wird auch in der Rechtsbeschwerde nicht geltend gemacht.

Rz. 10

2. Keinen Erfolg hat die Rechtsbeschwerde auch, soweit sie für den Fall der Annahme der Notwendigkeit der Kosten die Festsetzung einer Erhöhungsgebühr von 2,0 gem. Nr. 1008 RVG-VV rügt. Vertritt der Rechtsanwalt in derselben Angelegenheit mehrere Personen und berechnet sich seine Vergütung nach Wertgebühren, erfolgt die Deckelung der Erhöhung durch eine Begrenzung auf einen Gebührensatz von 2,0; dass die Erhöhung das Doppelte der Ausgangsgebühr übersteigt, ist unschädlich.

Rz. 11

a) Nach der genannten Vorschrift erhöht sich die Verfahrens- oder Geschäftsgebühr, wenn Auftraggeber in derselben Angelegenheit mehrere Personen sind, für jede weitere Person um 0,3, wobei mehrere Erhöhungen nach Nr. 1008 Abs. 3 RVG-VV einen Gebührensatz von 2,0 nicht übersteigen dürfen. Diese Vorschrift gilt auch dann, wenn der Rechtsanwalt - wie hier - die übrigen Wohnungseigentümer im Beschlussanfechtungsverfahren nach § 46 WEG vertritt (BGH, Beschl. v. 19.5.2011 - V , NJW 2011, 3723 Rz. 4).

Rz. 12

b) Da die Prozessbevollmächtigte hier mehr als sieben Eigentümer vertreten hat, kann sie die nach dem Gesetz höchst mögliche Gebührenerhöhung von 2,0 Gebühren beanspruchen. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde ergibt sich aus Nr. 1008 Abs. 3 RVG-VV nicht, dass die Erhöhung das Doppelte der Ausgangsgebühr - hier beträgt die zu erstattende Gebühr gem. Nr. 3100, 3101 RVG-VV 0,8 - nicht übersteigen darf. Soweit es um Wertgebühren geht, erfolgt die Deckelung der für jede weitere von dem Rechtsanwalt vertretene Person anfallende Gebühr von 0,3 durch eine Begrenzung auf 2,0 Gebühren, wobei es keine Rolle spielt, wie hoch die bei einer Mehrfachvertretung zu erhöhende Verfahrens- oder Geschäftsgebühr ist. Nur bezogen auf Festgebühren und bei Betragsrahmengebühren dürfen die Erhöhungen das Doppelte der Festgebühr bzw. das Doppelte des Mindest- und Höchstbetrages der Rahmengebühren nicht übersteigen. Demgegenüber steht außer Streit, dass die Erhöhungsgebühr höher sein kann als das Doppelte der einfachen Verfahrensgebühr oder Geschäftsgebühr. So beläuft sich beispielsweise die 1,3 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 RVG-VV bei acht und mehr Auftraggebern auf 3,3 (1,3 zzgl. 2,0 Erhöhungsgebühr) und übersteigt damit das Doppelte der 1,3 Verfahrensgebühr (vgl. Mayer/Kroiß, RVG, 7. Aufl., RVG-VV Nr. 1008 Rz. 6). Vertritt ein Rechtsanwalt in einer Zwangsvollstreckungsangelegenheit acht oder mehr Mandanten, beträgt die 0,3 Verfahrensgebühr gem. Nr. 3309 RVG-VV mit der Erhöhung 2,3 Gebühren (0,3 zzgl. 2,0 Erhöhungsgebühr), so dass auch insoweit das Doppelte der Verfahrensgebühr deutlich überschritten wird (vgl. BeckOK RVG/Hofmann, [1.12.2017], RVG VV 1008 Rz. 4.2). Für die hier in Rede stehende 0,8 Verfahrensgebühr gem. Nr. 3100, 3101 RVG-VV gilt nichts anderes.

IV.

Rz. 13

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 13255444

NJW 2019, 10

NJW 2019, 2698

FamRZ 2019, 1639

JurBüro 2019, 531

NZM 2019, 627

ZMR 2019, 11

ZMR 2019, 889

ZfIR 2019, 691

JZ 2019, 619

MDR 2019, 1091

NZI 2020, 70

Rpfleger 2019, 609

ZInsO 2019, 1809

ZWE 2020, 53

ZfS 2019, 524

AGS 2019, 433

MietRB 2019, 330

NJW-Spezial 2019, 571

RENOpraxis 2019, 219

RVGreport 2019, 344

BRAK-Mitt. 2020, 129

FMP 2019, 145

Mitt. 2019, 474

RVG prof. 2019, 199

immobilienwirtschaft 2020, 49

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