Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB. Einsatz eines ambulanten Pflegedienstes

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB ist unzulässig, wenn durch sie lediglich die regelmäßige Einnahme verordneter Medikamente sichergestellt werden soll, anstelle der Unterbringung jedoch auch eine Überwachung der Einnahme im häuslichen Umfeld durch einen ambulanten Pflegedienst möglich wäre.

 

Normenkette

FamFG § 26; BGB § 1906 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 103

 

Verfahrensgang

LG Rostock (Beschluss vom 28.04.2011; Aktenzeichen 3 T 76/11 (3))

AG Rostock (Beschluss vom 17.03.2011; Aktenzeichen 6 XVII 333/10)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerden des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Rostock vom 28.4.2011 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt hat.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gebührenfrei (§ 128b KostO). Die notwendigen Auslagen des Betroffenen für das Verfahren in allen Instanzen werden der Staatskasse auferlegt (§ 337 Abs. 1 FamFG).

Beschwerdewert: 3.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene leidet seit 1989 unter einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie mit fortschreitendem Residuum, wegen derer er mehrfach stationär in der Universitätsnervenklinik Rostock behandelt wurde. Nachdem der Betroffene die ihm verordnete Medikation eigenmächtig abgesetzt hatte, genehmigte das AG mit Beschluss vom 10.8.2010 auf Antrag des Betreuers die geschlossene Unterbringung des Betroffenen längstens bis zum 9.8.2011, um auf diese Weise die Medikamenteneinnahme sicherzustellen.

Rz. 2

Auf nachfolgenden Antrag des Betroffenen, die Genehmigung seiner Unterbringung vorzeitig aufzuheben, hat das AG sich in der Einrichtung über den Sachstand unterrichten lassen, den Betroffenen persönlich angehört und ein fachpsychiatrisches Gutachten eingeholt. Der Sachverständige hat ausgeführt, dass zu befürchten sei, dass der Betroffene die ihm verordneten Medikamente bei fehlender Beaufsichtigung nicht oder nicht regelmäßig einnehme. Daraus resultiere die Gefahr einer deutlichen Verschlechterung des Krankheitsbildes mit Eigen- und Fremdgefährdung sowie weiterer Chronifizierung. Daher sei zu empfehlen, die Unterbringung beschlussgemäß fortzuführen.

Rz. 3

Durch Beschluss vom 17.3.2011 hat das AG den Antrag des Betroffenen abgelehnt; das LG hat die Beschwerde des Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich seine Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 4

Die zulässig eingelegte Rechtsbeschwerde ist in der Sache begründet. Der angefochtene Beschluss hat den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

Rz. 5

1. Hat sich die angefochtene Entscheidung - wie hier - durch Fristablauf in der Hauptsache erledigt, kann das Beschwerdegericht gem. § 62 Abs. 1 FamFG aussprechen, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat. Diese Vorschrift ist im Rechtsbeschwerdeverfahren entsprechend anzuwenden (BGH v. 8.6.2011 - XII ZB 245/10, MDR 2011, 935 Rz. 8; BGH Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150 Rz. 9). Voraussetzung ist - neben einem auf die Feststellung gerichteten Antrag -, dass ein berechtigtes Interesse an der Feststellung vorliegt.

Rz. 6

Das Feststellungsinteresse ist in der Regel anzunehmen, wenn ein schwerwiegender Grundrechtseingriff vorliegt (§ 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG) oder eine konkrete Wiederholungsgefahr (§ 62 Abs. 2 Nr. 2 FamFG) besteht. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff (vgl. BVerfG NJW 2011, 1931 Rz. 98). Dasselbe gilt für einen Beschluss, der die vorzeitige Aufhebung einer solchen Maßnahme ablehnt und dadurch die Fortdauer des Grundrechtseingriffs bewirkt.

Rz. 7

2. Das LG hat seine Entscheidung auf Eigengefährdung gem. § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB gestützt und sie wie folgt begründet:

Rz. 8

Nach den fachärztlichen Gutachten leide der Betroffene unter einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Er sei weder krankheits- noch therapieeinsichtig. In der Vergangenheit habe der Betroffene seine Medikation mehrfach eigenmächtig abgesetzt und sowohl mündlich wie schriftlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Medikamente nicht mehr nehmen möchte. Die Erkrankung erfordere jedoch eine langjährige medikamentöse Behandlung. Aktuell sei eine ausreichende Stabilität der Befindlichkeit des Betroffenen nicht gegeben, weshalb bei fehlender Beaufsichtigung zu befürchten sei, dass er die Medikation absetze und es zu weiteren Schäden komme. Der Nutzen der Unterbringung überwiege daher die negativen Auswirkungen, weshalb die Freiheitsbeschränkung hinzunehmen sei.

Rz. 9

3. Die Entscheidung des LG hält einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Rz. 10

a) Die Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB setzt eine ernstliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben des Betreuten voraus (BGH v. 18.5.2011 - XII ZB 47/11, FamRZ 2011, 1141 Rz. 12; v. 13.1.2010 - XII ZB 248/09, FamRZ 2010, 365 Rz. 14 m.w.N.). Der Grad der Gefahr ist in Relation zum möglichen Schaden ohne Vornahme der freiheitsentziehenden Maßnahme zu bemessen (Bienwald/Sonnenfeld/Hoffmann Betreuungsrecht 4. Aufl., § 1906 Rz. 91).

Rz. 11

Die Genehmigung einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 Nr. 1 BGB muss zudem erforderlich sein (vgl. BGH v. 23.1.2008 - XII ZB 185/07, FamRZ 2008, 866 Rz. 23). Wenn die Gefahr durch andere Mittel als die freiheitsentziehende Unterbringung abgewendet werden kann, kommt eine Unterbringung als unverhältnismäßig nicht in Betracht (BGH v. 18.5.2011 - XII ZB 47/11, FamRZ 2011, 1141 Rz. 12; v. 13.1.2010 - XII ZB 248/09, FamRZ 2010, 365 Rz. 14 m.w.N.).

Rz. 12

Die Freiheit der Person nimmt - als Grundlage und Voraussetzung der Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen - einen hohen Rang unter den Grundrechten ein. Das kommt darin zum Ausdruck, dass Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG sie als "unverletzlich" bezeichnet, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG ihre Beschränkung nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes zulässt und Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG besondere Verfahrensgarantien statuiert. Präventive Eingriffe in das Freiheitsgrundrecht sind daher nur zulässig, wenn der Schutz hochwertiger Rechtsgüter dies unter strikter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert (vgl. BVerfG NJW 2011, 1931 Rz. 98 m.w.N.).

Rz. 13

b) Ob die weitere Unterbringung nach diesen Maßstäben zu rechtfertigen war, hat das LG unzureichend geprüft. Zwar hat das LG in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Sachverständigen festgestellt, dass der Betroffene unter einer chronifizierten paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leidet, und dass diese Erkrankung einer langfristigen Medikation bedarf, um weiteren gesundheitlichen Schaden von ihm abzuwenden. Ebenso fehlerfrei hat das LG festgestellt, dass der Betroffene nicht über die nötige Krankheits- und Therapieeinsicht verfügt, um die notwendigen Medikamente dauerhaft aus eigenem Antrieb einzunehmen, und dass die geschlossene Unterbringung grundsätzlich ein geeignetes Mittel sein kann, um eine medizinisch notwendige Behandlung sicherzustellen.

Rz. 14

Das LG hat jedoch verfahrensfehlerhaft nicht die fortdauernde Erforderlichkeit der Unterbringung überprüft.

Rz. 15

Die befragte Mitarbeiterin der Einrichtung hatte angegeben, nach ihrer Ansicht benötige der Betroffene keine geschlossene Unterbringung, sofern er seine Medikamente nehme. Daher käme eine überwachte Wohnform in Betracht. Der Betroffene selbst hat erklärt, dass er mit einer Überwachung der Medikamenteneinnahme durch den Pflegedienst des Deutschen Roten Kreuzes oder einen anderen Pflegedienst einverstanden sei. Er sehe ein, dass er Medikamente einnehmen müsse.

Rz. 16

Somit hatte der Betroffene erkannt, dass seine Unterbringung dadurch bedingt war, dass außerhalb der Einrichtung die Medikamenteneinnahme nicht gesichert war. Auch hatte er nach eigenem Bekunden in der Zwischenzeit eingesehen, dass er sich der Medikamenteneinnahme nicht würde entziehen können. Auf dieser Einsicht beruht offenbar sein mehrfach vorgebrachter Wunsch, die regelmäßige häusliche Medikamenteneinnahme durch einen Pflegedienst überwachen zu lassen. Zwar mag dieses Ansinnen nicht aus einer inzwischen gewonnenen Krankheits- und Therapieeinsicht, sondern aus dem schlichten Verlangen geboren sein, aus der geschlossenen Unterbringung frei zu kommen. Auf das Motiv für die Kooperationsbereitschaft des Betroffenen kommt es jedoch nicht an, sondern nur darauf, die medizinisch notwendigen Maßnahmen sicherzustellen.

Rz. 17

Das LG hätte daher - ggf. auf der Grundlage einer ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen - prüfen müssen, ob der neuerliche Vorschlag des Betroffenen, die regelmäßige Medikamenteneinnahme in häuslicher Umgebung durch einen Pflegedienst überwachen zu lassen, hinreichend tragfähig war. Wäre dies der Fall, war die weitere Unterbringung nicht mehr erforderlich und deshalb unzulässig. Indem das LG diese Prüfung unterlassen hat, hat es den Sachverhalt unvollständig aufgeklärt und damit zugleich den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2770037

NJW 2011, 3579

NJW 2011, 6

EBE/BGH 2011, 362

FamRZ 2011, 1864

FuR 2012, 20

FGPrax 2011, 319

ArztR 2012, 132

BtPrax 2011, 258

MDR 2011, 1358

NJ 2011, 4

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