Leitsatz (amtlich)

Ein nach Ablauf eines Jahres nach dem Ende der versäumten Frist gestellter Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist auch dann unzulässig, wenn die Fristversäumung dadurch verursacht worden ist, dass ein zuzustellendes Schriftstück von der Person, an die eine zulässige Ersatzzustellung erfolgte, dem Empfänger vorenthalten wurde.

 

Normenkette

ZPO § 234 Abs. 3

 

Verfahrensgang

LG Bonn (Beschluss vom 29.07.2015; Aktenzeichen 6 T 141/15)

AG Bonn (Entscheidung vom 20.05.2015; Aktenzeichen 98 IN 22/10)

 

Tenor

Der Antrag des Schuldners auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 6. Zivilkammer des LG Bonn vom 29.7.2015 wird abgelehnt.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Schuldner beantragte am 28.1.2010 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen. Im Anhörungsfragebogen des Insolvenzgerichts gab er die Anschrift seiner Mutter, bei der er damals lebte, als seine Wohnanschrift an. Am 30.4.2010 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Prüfungstermin für den 12.7.2010 anberaumt. In der Folgezeit meldeten zahlreiche Gläubiger Forderungen als solche aus einer vorsätzlich begangenen unerlaubten Handlung an. Am 22.6.2010 wurde dem Schuldner eine Aufstellung dieser Forderungen mit einer Belehrung über die Rechtsfolgen des § 302 InsO und über die Möglichkeit des Widerspruchs unter der von ihm angegebenen Anschrift durch Übergabe an seine Mutter zugestellt. Am Prüfungstermin vom 12.7.2010 nahm der Schuldner nicht teil. Mit Schreiben vom 27.3.2015 widersprach er gegenüber dem Insolvenzgericht mehreren als Deliktsforderungen angemeldeten Forderungen bezüglich dieser Qualifizierung und beantragte wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte er aus, er habe erst am 13.3.2015 vom Insolvenzverwalter erfahren, dass Deliktsforderungen angemeldet worden seien und er diesen zur Vermeidung der Rechtsfolgen des § 302 InsO widersprechen könne. Seine inzwischen verstorbene Mutter, zu der sein Verhältnis seit Beginn des Insolvenzverfahrens zerrüttet gewesen sei, habe ihm die von ihr entgegengenommenen Unterlagen nicht ausgehändigt.

Rz. 2

Das Insolvenzgericht hat den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und auf Eintragung der Widersprüche zurückgewiesen. Die sofortige Beschwerde des Schuldners hat keinen Erfolg gehabt. Zur Durchführung der vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde beantragt der Schuldner Prozesskostenhilfe.

II.

Rz. 3

Die beantragte Prozesskostenhilfe kann nicht bewilligt werden, denn die beabsichtigte Rechtsbeschwerde bietet keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dies ergibt sich schon aus der bisherigen Rechtsprechung des BGH und des BVerfG.

Rz. 4

1. Das Beschwerdegericht hat die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 186 InsO i.V.m. § 233 ZPO bejaht, sie aber gleichwohl abgelehnt, weil die Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO verstrichen sei.

Rz. 5

2. Diese Beurteilung ist frei von Rechtsfehlern.

Rz. 6

a) Nach § 234 Abs. 3 ZPO kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Ablauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, nicht mehr beantragt werden. Wird zur Prüfung der im Insolvenzverfahren angemeldeten Forderungen ein Prüfungstermin durchgeführt, muss ein Widerspruch des Schuldners gegen eine angemeldete Forderung in diesem Termin erfolgen. Die Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO endete daher ein Jahr nach dem Prüfungstermin vom 12.7.2010 und war zum Zeitpunkt des Wiedereinsetzungsantrags am 27.3.2015 längst abgelaufen.

Rz. 7

b) Die absolute Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO soll eine unangemessene Verzögerung des Rechtsstreits verhindern und den Eintritt der Rechtskraft gewährleisten. Sie ist mit dem Grundgesetz vereinbar (BVerfG, Beschl. v. 18.12.1972 - 2 BvR 756/71, zitiert nach BGH, Beschl. v. 19.2.1976 - VII ZR 16/76, MDR 1976, 569; v. 24.9.1986 - VIII ZB 42/86, VersR 1987, 256). Es kann aber geboten sein, sie im Einzelfall ausnahmsweise nicht anzuwenden, wenn nur so die verfassungsmäßigen Rechte des Antragstellers gewahrt werden können.

Rz. 8

aa) Ein solcher Ausnahmefall liegt insb. dann vor, wenn das Versäumen der Jahresfrist der Sphäre des Gerichts und nicht derjenigen des Antragstellers zuzurechnen ist (BGH, Beschl. v. 19.3.2013 - VI ZB 68/12, NJW 2013, 1684 Rz. 10; zu § 123 Abs. 2 Satz 4 PatG vgl. BPatG, Beschl. v. 30.1.2014 - 7 W (pat) 13/14, nv Rz. 18). Dann verbietet es der Anspruch einer Partei auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), die Partei mit ihrem Wiedereinsetzungsantrag wegen Ablaufs der Jahresfrist auszuschließen. Das Rechtsstaatsprinzip ist durch die Anwendung des § 234 Abs. 3 ZPO etwa dann verletzt, wenn der Partei eine fehlerhafte Urteilsausfertigung zugestellt wurde (BGH, Beschl. v. 7.7.2004 - XII ZB 12/03, NJW-RR 2004, 1651, 1653), wenn das Gericht über einen rechtzeitig gestellten Prozesskostenhilfeantrag nicht innerhalb eines Jahres entschieden (BGH, Beschl. v. 12.6.1973 - VI ZR 121/73, NJW 1973, 1373) oder eine ablehnende Entscheidung über einen Prozesskostenhilfeantrag nicht zugestellt hat (BGH, Beschl. v. 20.2.2008 - XII ZB 179/07, NJW-RR 2008, 878 Rz. 15 f.), und wenn das Gericht bei einer Partei durch seine Verfahrensweise über einen längeren Zeitraum das Vertrauen erweckt hat, der eingelegte Rechtsbehelf sei zulässig (BGH, Urt. v. 15.12.2010 - XII ZR 27/09, NJW 2011, 522 Rz. 37; BAG NJW 2004, 2112, 2114) oder ein gestellter Wiedereinsetzungsantrag sei begründet (vgl. BVerfG NJW 2004, 2149, 2150).

Rz. 9

bb) Im Streitfall sind die Gründe, derentwegen der Schuldner die Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO versäumt hat, nicht der Sphäre des Gerichts zuzurechnen. Das Gericht hat das Schreiben, das die Aufstellung der angemeldeten Deliktsforderungen und die nach § 175 Abs. 2 InsO vorgeschriebene Belehrung enthielt, dem Schuldner unter der von ihm angegebenen Wohnanschrift durch Übergabe an seine Mutter gem. §§ 176, 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO wirksam zustellen lassen. Der Umstand, dass die Mutter das Schreiben nicht an den Schuldner weiterleitete, liegt in der Sphäre des Schuldners und kann nicht dem Gericht zugerechnet werden. Dass der Schuldner das Verhalten seiner Mutter nicht zu vertreten hat, führt allein nicht zur Unanwendbarkeit der Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO. Diese greift selbst im Falle höherer Gewalt ein (vgl. zu der entsprechenden Regelung in § 93 Abs. 2 Satz 5 BVerfGG: Hömig in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 2015, § 93 Rz. 69 unter Hinweis auf BT-Drucks. 12/3628, 13; anders etwa die Regelung in § 60 Abs. 3 VwGO, § 56 Abs. 3 FGO, § 67 Abs. 3 SGG).

Rz. 10

cc) Die Ausschlussfrist des § 234 Abs. 3 ZPO schützt im Zivilprozess insb. das Vertrauen des Gegners auf den Eintritt der materiellen Rechtskraft einer Entscheidung. Es wird deshalb vertreten, dass die Ausschlussfrist nicht anzuwenden sei, wenn es an einem solchen schutzwürdigen Vertrauen auf Seiten des Prozessgegners fehlt, etwa weil dieser die Versäumung der Ausschlussfrist arglistig veranlasst hat (Gehrlein in MünchKomm/ZPO, 4. Aufl., § 234 Rz. 15; OLG Stuttgart NJW-RR 2002, 716, 717). Ob dieser Ansicht zu folgen ist, braucht nicht entschieden zu werden, weil eine solche Fallgestaltung nicht vorliegt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 9094495

HFR 2016, 660

NJW 2016, 8

FamRZ 2016, 632

NJW-RR 2016, 638

JurBüro 2017, 390

WM 2016, 1155

JZ 2016, 177

MDR 2016, 343

NZI 2016, 238

NZI 2016, 7

ZInsO 2016, 543

InsbürO 2016, 160

RENO 2016, 16

VIA 2016, 28

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