Entscheidungsstichwort (Thema)

Allgemeine Erteilung des staatsanwaltschaftlichen Einvernehmens zur Abschiebung. Zustimmung zur Abschiebung bei mehreren ermittelnden Staatsanwaltschaften. Unzulässigkeit des Haftantrags

 

Leitsatz (amtlich)

a) Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann auch allgemein erteilt werden.

b) Werden Ermittlungsverfahren durch mehrere Staatsanwaltschaften geführt, müssen alle ein Verfahren führenden Staatsanwaltschaften nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG der Abschiebung zustimmen.

c) In dem Haftantrag muss nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG dargelegt werden, dass die zuständige(n) Staatsanwaltschaft(en) allgemein oder im Einzelfall ihr Einvernehmen mit der Abschiebung nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erklärt hat (haben), wenn sich aus dem Antrag selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Betroffenen anhängig ist. Fehlen sie, ist der Antrag mangels ausreichender Begründung unzulässig (Fortführung von Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511).

 

Normenkette

AufenthG § 72 Abs. 4 S. 1; FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 5

 

Verfahrensgang

LG Heilbronn (Beschluss vom 27.07.2010; Aktenzeichen 1 T 331/10 Br)

AG Heilbronn (Entscheidung vom 07.07.2010; Aktenzeichen A XIV 12/10)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG Heilbronn vom 27.7.2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 3.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Betroffene, ein nigerischer oder nigerianischer Staatsangehöriger, beantragte erfolglos die Gewährung von Asyl. Das zuständige Bundesamt forderte den Betroffenen mit seit 14.5.2002 bestandskräftigem Ablehnungsbescheid vom 11.6.2001 unter Androhung der Abschiebung in den Niger zur Ausreise auf. Dieser Aufforderung leistete der Betroffene nicht Folge. Er war nach Ablauf der Ausreisefrist für die Behörden nicht mehr erreichbar. Mit Bescheid vom 20.4.2010 bestimmte das Bundesamt Nigeria als weiteren Zielstaat der beabsichtigten Abschiebung. Der Betroffene wurde am 7.7.2010 wegen Diebstahlsverdachts in Heilbronn festgenommen. Der Beteiligte zu 2) wies ihn mit Bescheid vom 23.7.2010 auf der Grundlage von § 55 Abs. 1 und 2 Nr. 2 AufenthG wegen diverser, teilweise strafrechtlich geahndeter Verstöße gegen Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes aus und ordnete die sofortige Vollziehbarkeit an.

Rz. 2

Auf den Antrag des Beteiligten zu 2) hat das AG am 7.7.2010 die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis längstens 6.10.2010 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat das LG zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, mit der er nach der erfolgten Abschiebung am 5.10.2010 die Feststellung erreichen möchte, dass die Haftanordnung und die Beschwerdeentscheidung ihn in seinen Rechten verletzt haben.

II.

Rz. 3

Das Beschwerdegericht hält den Betroffenen für vollziehbar ausreisepflichtig. Denn die Ausweisung sei sofort vollziehbar und die Abschiebungsandrohung bestandskräftig. Abschiebungshindernisse bestünden nicht. Mit der verwaltungsgerichtlichen Klage habe sich der Betroffene - zudem erfolglos - nur gegen die Bestimmung Nigerias zum weiteren Zielstaat und gegen die weitere Feststellung des Bundesamts gewandt, dass insoweit ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG nicht bestehe. Einer persönlichen Anhörung im Beschwerdeverfahren habe es nicht bedurft, da keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten gewesen seien.

III.

Rz. 4

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

Rz. 5

1. Die nach Erledigung der Hauptsache auf Feststellung nach § 62 Abs. 1 FamFG gerichtete Rechtsbeschwerde ist statthaft (Senat, Beschl. v. 25.2.2010 - V ZB 172/09, FGPrax 2010, 150, 151 Rz. 9) und auch im Übrigen zulässig (§ 71 Abs. 1 und 2 FamFG).

Rz. 6

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die bisherigen Feststellungen rechtfertigen weder die Anordnung der Abschiebungshaft noch die Zurückweisung der Beschwerde.

Rz. 7

a) Zu Unrecht macht die Rechtsbeschwerde allerdings geltend, der Haftantrag des Beteiligten zu 2) habe den gesetzlichen Anforderungen des § 417 Abs. 2 Satz 1 FamFG nicht entsprochen.

Rz. 8

aa) Nach dieser Vorschrift ist der Haftantrag zu begründen. Dazu muss der Antrag nicht nur Angaben zur Identität des Betroffenen, zu seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort, zur Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung und zu deren erforderlicher Dauer enthalten (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 bis 4 FamFG). Nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG müssen in dem hier gegebenen Fall der Anordnung von Abschiebungshaft neben der Verlassenspflicht des Betroffenen (Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rz. 10, 12) auch die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung dargelegt werden. Diesen Anforderungen genügt der von dem Beteiligten zu 2) vorgelegte Antrag indessen. Der Beteiligte zu 2) hat inhaltlich nicht nur die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebung als solcher, sondern insb. mit dem Verhalten des Betroffenen bei der Beschaffung von Ersatzpapieren auch Umstände dargelegt, aus denen er die Notwendigkeit ableitet, zur Sicherung der Abschiebung die Haft anzuordnen. Er hat auch erläutert, dass und aus welchen Gründen es aus seiner Sicht gelingen wird, innerhalb von drei Monaten Passersatzpapiere für die Abschiebung des Betroffenen entweder in den Niger oder nach Nigeria zu beschaffen. Das war ausreichend.

Rz. 9

bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass sich der Antrag nicht dazu verhält, ob das nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorlag. Ausführungen dazu gehören zu der Darlegung der Voraussetzungen der Abschiebung, die ein Antrag nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG unbedingt enthalten muss, wenn sich aus ihm selbst oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne Weiteres ergibt, dass ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist. Das Fehlen entsprechender Ausführungen ist dann schon ein Begründungsmangel, der zur Unzulässigkeit des Antrags führt (vgl. Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512 Rz. 10, 14 f.). So liegt es hier indessen nicht. Der Antrag lässt nicht ohne Weiteres erkennen, dass wegen des Ladendiebstahls bereits ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet oder das auf dem Stammblatt des Beteiligten zu 2) am Ende angeführte Strafverfahren noch anhängig war.

Rz. 10

b) Die Haftanordnung musste entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde auch nicht bis zur Vorlage der vollständigen Ausländerakte zurückgestellt werden.

Rz. 11

aa) Diese ist dem Gericht zwar nach § 417 Abs. 2 Satz 3 FamFG mit der Antragstellung vorzulegen und regelmäßig auch notwendige Grundlage der Entscheidung über die Anordnung der Sicherungshaft (BVerfG, NVwZ 2008, 304, 305; InfAuslR 2008, 358, 360; NJW 2009, 2659, 2660; Beschlussempfehlung zum FamFG in BT-Drucks. 16/9733, 299). Etwas anderes gilt aber dann, wenn sich der unter Beiziehung der Ausländerakte festzustellende Sachverhalt aus den vorgelegten Teilen vollständig ergibt und die nicht vorgelegten Teile keine weiteren Erkenntnisse versprechen (Senat, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 332 Rz. 19). So liegt es hier. Der Beteiligte zu 2) hatte den maßgeblichen Sachverhalt in seinem Antrag dargelegt und dessen wesentliche Teile, insb. die Angaben zur Ausreisepflicht und zur Nationalität des Betroffenen, mit - wenn auch zum Teil nur auszugsweisen - Kopien der maßgeblichen Bescheide und mit Urkunden der nigerianischen Behörden unterlegt. Dass das Gericht den übrigen Teilen der Ausländerakte weitere entscheidungserhebliche Informationen hätte entnehmen können, ist weder dargelegt noch sonst ersichtlich.

Rz. 12

bb) Der Hinweis darauf, dass sich das Beschwerdegericht vollständige Kopien der Bescheide des zuständigen Bundesamts über die Zurückweisung des Asylantrags des Betroffenen nebst Verlassensanordnung und Abschiebungsandrohung hat vorlegen lassen, gibt hierfür keinen Anhaltspunkt. Denn die vorgelegten auszugsweisen Kopien enthielten den Tenor der Bescheide und genügten für die Prüfung. Ein in der Vorlage nur auszugsweiser Kopien etwa liegender Verstoß des AG gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 26 FamFG) wäre damit zudem geheilt worden (vgl. Senat, Beschl. v. 10.6.2010 - V ZB 204/09, NVwZ 2010, 1172, 1174 Rz. 36; Keidel/Budde, FamFG, 16. Aufl., § 62 Rz. 22).

Rz. 13

cc) Die allgemein gehaltene Rüge, dass Gericht habe sich nicht auf die Angaben des Betroffenen stützen dürfen, ist unzureichend. Denn neben den Tatsachen, die einen Verfahrensfehler ergeben, ist auch die mögliche Entscheidungserheblichkeit der gerügten Rechtsverletzung darzulegen (vgl. BGH, Beschl. v. 19.12.2002 - VII ZR 101/09, NJW 2003, 831 f.; Keidel/Meyer-Holz, a.a.O., § 71 Rz. 39; Wenzel in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 557 Rz. 29 i.V.m. § 551 Rz. 22). Jedenfalls daran fehlt es hier. Der Betroffene macht nicht geltend, er habe sich der Abschiebung zur Verfügung gehalten. Er räumt im Gegenteil ein, dass er jedenfalls zeitweise untergetaucht ist, und hat nach eigenem Bekunden auf keinen Fall in sein Heimatland zurückkehren wollen.

Rz. 14

c) Zu beanstanden ist aber, dass das AG und das Beschwerdegericht weder die Voraussetzungen eines konkreten Haftgrundes bei Anordnung der Haft festgestellt haben, noch, dass es gelingen werde, die Abschiebung innerhalb der Frist von drei Monaten nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG durchzuführen.

Rz. 15

aa) Die Haftgerichte sind aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich und aufgrund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Insbesondere die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG notwendige Prognose hat der Haftrichter auf der Grundlage einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage zu treffen (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660). Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (BVerfG NJW 2009, 2659, 2660; Senat, Beschl. v. 4.3.2010 - V ZB 222/09, BGHZ 184, 323, 329 f. Rz. 14).

Rz. 16

bb) Diesen Anforderungen genügen die angefochtenen Entscheidungen nicht.

Rz. 17

(1) Der Beschluss des AG lässt schon nicht erkennen, auf welchen der in § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgesehenen Haftgründe die Haftanordnung gestützt werden soll. Mit den von dem Beteiligten zu 2) angeführten Haftgründen nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG befasst sich das AG nicht. Auf den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG sowie auf den von dem Beteiligten zu 2) nicht genannten, aber auch in Betracht kommenden Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AufenthG könnte die Haftanordnung auch nicht ohne Weiteres gestützt werden. Denn die Haft ist unverhältnismäßig, wenn der Ausländer sich offensichtlich nicht der Abschiebung entziehen will (vgl. BVerfG, InfAuslR 1994, 342, 344; Hailbronner, AuslR, Stand 61. Aktual. Dezember 2008, § 62 AufenthG Rz. 32). Für den Haftgrund nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG, den das AG möglicherweise im Blick gehabt hat, müssten Anhaltspunkte für die Absicht des Betroffenen, sich der Abschiebung zu entziehen (§ 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG), festgestellt werden. Dazu reicht die Feststellung des AG, der Betroffene werde nicht freiwillig ausreisen, nicht. Das ist nämlich nach § 58 Abs. 1 AufenthG Voraussetzung dafür, dass die Abschiebung überhaupt angeordnet werden darf. Sie ergibt nicht schon für sich genommen den für die Anordnung der Haft nach § 62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 AufenthG erforderlichen begründeten Verdacht, der Betroffene wolle sich der Abschiebung entziehen. Dieser Fehler könnte zwar im Beschwerdeverfahren geheilt werden. Das hat der Senat für den Fall entschieden, dass die Haftanordnung auf einen nicht gegebenen Haftgrund gestützt wird, ein solcher aber vorliegt (Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rz. 10). Für den hier gegebenen Fall der fehlenden Benennung des Haftgrunds gälte nichts anderes. Das Beschwerdegericht hat von dieser Möglichkeit indessen keinen Gebrauch gemacht und auch seinerseits weder einen Haftgrund benannt noch Feststellungen zu dessen Voraussetzungen getroffen.

Rz. 18

(2) Unzureichend sind auch die Feststellungen des AG und des Beschwerdegerichts zu dem Vorliegen des Hafthindernisses nach § 62 Abs. 2 Satz 4 AufenthG. Danach darf die Haft nicht angeordnet werden, wenn feststeht, dass die Abschiebung aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann. Der Haftrichter hat dazu eine Prognose anzustellen und diese auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstrecken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschl. v. 8.7.2010 - V ZB 89/10, juris Rz. 8; v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rz. 22). Diese Prognose ist im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar nur eingeschränkt überprüfbar (Senat, a.a.O.), hier aber zu beanstanden. Das AG hat die erforderliche Prognose nicht angestellt. Das Beschwerdegericht hat seine Prognose unzulässig auf das Vorliegen von Abschiebungshindernissen allein unter dem Gesichtspunkt der Rechtsmittelverfahren des Betroffenen gegen die Abschiebungs- bzw. Ausweisungsverfügung verkürzt.

Rz. 19

Dieser Mangel hat sich allerdings nicht ausgewirkt. Aus dem späteren tatsächlichen Geschehensablauf kann nämlich auf den mutmaßlichen Inhalt einer gebotenen, aber unterlassenen Prognose geschlossen werden (Senat, Beschl. v. 22.7.2010 - V ZB 29/10, InfAuslR 2011, 27 Rz. 24). Hier ist die Abschiebung wenn auch nur einen Tag vor dem Ende der angeordneten Haft erfolgt. Eine entsprechende Prognose hätte die Haft und deren Dauer gerechtfertigt.

Rz. 20

d) Weder das AG noch das Beschwerdegericht haben sich mit der hiervon zu trennenden Frage befasst, ob der Beteiligte zu 2) die Beschaffung der Ersatzpapiere für den Betroffenen mit der gebotenen (Senat, Beschl. v. 10.6.2010 - V ZB 205/09, juris Rz. 16 f.) Beschleunigung betrieb. Dazu bestand aber Anlass, weil die nigerianischen Behörden dem Betroffenen Ersatzpapiere nur erteilen wollten, wenn er sie nicht in den nächsten zwei Monaten von den Behörden des Staats Niger erhielt, und weil dieser Zeitraum zur Klärung der Frage genutzt werden sollte, ob der Betroffene doch, wie bislang angenommen, Angehöriger dieses Staats ist.

Rz. 21

e) Nicht festgestellt ist schließlich auch, ob für die Anordnung der Abschiebungshaft das Einvernehmen der zuständigen Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlich war und vorlag.

Rz. 22

aa) Nach der genannten Vorschrift darf ein Ausländer nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft ausgewiesen und abgeschoben werden, wenn gegen ihn öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist. Liegt das danach erforderliche Einvernehmen nicht vor, darf die Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht angeordnet werden (Senat, Beschlüsse v. 17.6.2010 - V ZB 93/10, NVwZ 2010, 1574, 1575 Rz. 8; v. 18.8.2010 - V ZB 211/10, juris Rz. 10).

Rz. 23

bb) Ob gegen den Betroffenen öffentliche Klage erhoben oder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig war und ob die zuständige Staatsanwaltschaft der Ausweisung und Abschiebung zugestimmt hatte, haben weder das AG noch das Beschwerdegericht festgestellt. Dazu bestand aber Veranlassung. Die Haftakte beginnt mit der Feststellung, der Betroffene sei als Ladendieb festgenommen worden. Aus dem Stammblatt der Ausländerakte des Beteiligten zu 2) über den Betroffenen ergibt sich, dass die Außenstelle Dortmund des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge auf ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Halberstadt hingewiesen und um Unterrichtung der Staatsanwaltschaft bei "Auftauchen" des Betroffenen gebeten hatte. Deshalb war nach § 26 FamFG von Amts wegen festzustellen, ob das zutraf und ob die Staatsanwaltschaft das erforderliche Einvernehmen erteilt hatte.

IV.

Rz. 24

Die Sache ist nicht zur Entscheidung reif. Es ist trotz der zwischenzeitlich erfolgten Abschiebung des Betroffenen nicht auszuschließen, dass die fehlenden Feststellungen noch getroffen werden können. Die Sache ist deshalb nach § 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückzuverweisen. Dafür weist der Senat auf Folgendes hin:

Rz. 25

1. Zunächst wird der Frage nachzugehen sein, ob bei Stellung des Haftantrags und bei der Entscheidung des Beschwerdegerichts gegen den Betroffenen eines oder mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren schon oder noch anhängig waren. Sollte das der Fall sein, wäre weiter zu prüfen, ob sämtliche Staatsanwaltschaften, die Verfahren gegen den Betroffenen führten, ihr erforderliches Einvernehmen allgemein oder im Einzelfall erteilt hatten. Sollten seinerzeit eines oder mehrere strafrechtliche Ermittlungsverfahren anhängig gewesen sein und das erforderliche Einvernehmen der beteiligten Staatsanwaltschaft(en) nicht vorgelegen haben, ist die Verletzung des Betroffenen in seinen Rechten sowohl durch die Haftanordnung als auch durch die Beschwerdeentscheidung festzustellen. Denn dieser Mangel ist nicht heilbar.

Rz. 26

2. Sollte sich ergeben, dass entweder ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren nicht anhängig war oder das Einvernehmen vorlag, wäre weiter festzustellen, ob der den Vorinstanzen vorgelegte Tatsachenstoff einen Haftgrund ergibt und ob der Beteiligte zu 2) die Beschaffung der Ersatzpapiere mit der gebotenen Beschleunigung betrieb. Dem Betroffenen bislang nicht bekannte Ergebnisse einer etwa erforderlichen ergänzenden Sachaufklärung nach § 26 FamFG dürften dabei allerdings zu seinem Nachteil nur verwertet werden, wenn dem Betroffenen rechtliches Gehör gewährt wird. Sollte das nicht möglich sein, bliebe die Frage unaufklärbar. Das ginge zu Lasten des Beteiligten zu 2).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2627553

EBE/BGH 2011

NVwZ 2011, 576

FGPrax 2011, 144

InfAuslR 2011, 202

StRR 2011, 83

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