Leitsatz (amtlich)

Ist eine fristgebundene Sendung ans Gericht ordnungsgemäß adressiert und frankiert und wird sie zu einer Zeit zur Post gegeben, zu der sie das Gericht nach den üblichen Beförderungszeiten erreichen müßte, so steht es der Wiedereinsetzung – wenn die Sendung verspätet eingeht – nicht entgegen, daß nach einer Auswertung der Post 7 % aller Sendungen einschließlich der nicht ordnungsgemäß adressierten nur mit Verzögerung befördert werden.

 

Normenkette

ZPO § 233

 

Verfahrensgang

OLG Karlsruhe (Aktenzeichen 1 U 296/97)

LG Heidelberg (Aktenzeichen 2 O 57/96)

 

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Beklagten wird der Beschluß des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 16. Juni 1998 aufgehoben.

Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt.

Beschwerdewert: 2.216.000 DM.

 

Gründe

I.

Die Beklagten haben gegen ein Urteil des Landgerichts Heidelberg Berufung eingelegt. Die Frist zu deren Begründung wurde bis 2. April 1998 verlängert. Der Schriftsatz, mit dem die Beklagten die Berufung begründeten, ging am 3. April 1998 beim Oberlandesgericht ein. Am 15. April 1998 haben die Beklagten wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zur Begründung vorgetragen, die Begründungsschrift sei am 1. April 1998 vor 18.30 Uhr – dem letzten Leerungsdatum – ordnungsgemäß frankiert in einen Postbriefkasten in der Heidelberger Innenstadt eingeworfen worden.

Durch den angefochtenen Beschluß hat das Oberlandesgericht nach Einholung einer Auskunft der Deutschen Post AG den Wiedereinsetzungsantrag der Beklagten abgelehnt und deren Berufung als unzulässig verworfen. Gegen diesen ihnen am 29. Juni 1998 zugestellten Beschluß richtet sich die am 10. Juli 1998 eingegangene sofortige Beschwerde der Beklagten.

II.

Das Rechtsmittel hat Erfolg.

1. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Nach der Auskunft bei der Deutschen Post AG könne mit einer Wahrscheinlichkeit von 93 % davon ausgegangen werden, daß eine Briefsendung, die an einem Werktag vor 18.30 Uhr in den fraglichen Briefkasten eingeworfen wird, am nächsten Tag den Empfänger in Karlsruhe erreiche. Da hiernach immerhin 7 v.H. solcher Briefsendungen ihren Empfänger nicht am Tag nach der Aufgabe erreichten, hätten sich die Prozeßbevollmächtigten der Beklagten nicht auf den rechtzeitigen Zugang verlassen dürfen. Sie hätten vielmehr den Schriftsatz vorab durch Telefax übersenden oder am Tage des Fristablaufs durch telefonische Nachfrage kontrollieren müssen, ob der Schriftsatz rechtzeitig eingegangen war.

Deshalb könne es offenbleiben, daß der rechtzeitige Einwurf in den Postbriefkasten nicht hinreichend glaubhaft gemacht sei. Rechtsanwalt K., der den Einwurf besorgt haben solle, habe dies selbst nicht anwaltlich versichert.

2. Das Berufungsgericht hat mit seiner Hauptbegründung die nach § 233 ZPO an die Sorgfalt des Prozeßbevollmächtigten zu stellenden Anforderungen überspannt.

a) Im Ansatz zutreffend geht es davon aus, daß eine Partei grundsätzlich eine Frist bis zum letzten Tage ausnutzen darf und daß Verzögerungen der Briefbeförderung durch die Deutsche Post AG nicht als Verschulden der Prozeßpartei oder ihres Bevollmächtigten angerechnet werden dürfen (BVerfG NJW 1995, 2546, 2547).

Der vorliegende Fall bietet keine Besonderheiten, die eine Abweichung davon rechtfertigen können. Im Hinblick auf die vom Berufungsgericht eingeholte Auskunft haben die Beklagten eine öffentliche Anzeige der Deutschen Post AG vorgelegt, nach deren Inhalt zwar – nur – 95 % aller Briefe am nächsten Tag ankommen, daß aber die restlichen 5 % nahezu ausnahmslos unrichtig, unvollständig oder mißverständlich adressiert sind. Unabhängig vom Beweiswert dieser Anzeige verdeutlicht sie, daß die Anfrage des Berufungsgerichts bei der Post zu ungenau gefaßt war: Es hat keine Anhaltspunkte dafür festgestellt, daß der Brief der Rechtsanwälte der Beklagten mit der Begründungsschrift etwa nicht ordnungsgemäß adressiert war.

Jedenfalls bei klar und eindeutig adressierten Sendungen gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Beklagten oder ihre Prozeßbevollmächtigten mit einer Brieflaufzeit rechnen mußten, welche eine ernsthafte Gefahr der Fristversäumnis begründete.

3. Auch die Hilfsbegründung des Berufungsgerichts trägt nicht mehr. Der für die Beklagten handelnde Rechtsanwalt K. hat inzwischen gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1, 2. Halbs. ZPO anwaltlich versichert, daß er die Abendpost der Kanzlei am 1. April 1998 vor 18.30 Uhr in den fraglichen Postbriefkasten eingeworfen und sich zuvor vergewissert hat, daß die Leerung noch nicht erfolgt war. Rechtsanwalt F. hat ergänzend anwaltlich versichert, daß er die Begründungsschrift in die Abendpost der Kanzlei gelegt hatte.

Damit sind die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung glaubhaft gemacht.

4. Mit der Wiedereinsetzung verliert die Verwerfung der Berufung ihre Grundlage.

 

Unterschriften

Paulusch, Kirchhof, Fischer, Zugehör, Ganter

 

Fundstellen

Haufe-Index 539232

BB 1999, 1405

DStR 1999, 949

HFR 1999, 1027

NJW 1999, 2118

EBE/BGH 1999, 164

Nachschlagewerk BGH

ZAP 1999, 609

JZ 1999, 852

MDR 1999, 894

SGb 2000, 24

VersR 2000, 383

MittRKKöln 1999, 235

BRAK-Mitt. 1999, 160

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