Leitsatz (amtlich)

a) Die Bestellung eines Betreuers für "alle Angelegenheiten" des Betroffenen kommt nur in Betracht, wenn dieser aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zusätzlich muss in sämtlichen Bereichen, die das Leben des Betroffenen ausmachen, ein Handlungsbedarf bestehen.

b) Eine Befugnis zum Vollmachtwiderruf muss dem Betreuer auch dann als eigenständiger Aufgabenkreis ausdrücklich zugewiesen werden, wenn im Übrigen eine Betreuung für alle Angelegenheiten eingerichtet ist (im Anschluss an BGH BGHZ 206, 321 = FamRZ 2015, 1702).

 

Normenkette

BGB § 1896 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

LG Amberg (Beschluss vom 22.01.2020; Aktenzeichen 31 T 966/18 und 31 T 1089/18)

AG Schwandorf (Beschluss vom 19.09.2018; Aktenzeichen 408 XVII 290/17)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 5) gegen den Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Amberg vom 22.1.2020 wird zurückgewiesen.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Wert: 5.000 EUR

 

Gründe

I.

Rz. 1

Für die 96-jährige Betroffene wurden Mitte 2017 eine Betreuung mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge einschließlich damit verbundener Aufenthaltsbestimmung, Organisation der ambulanten Versorgung und Abschluss, Änderung und Kontrolle der Einhaltung eines Heim-Pflegevertrags angeordnet und der Beteiligte zu 4) zum Berufsbetreuer sowie die Beteiligte zu 3) zur Ersatzbetreuerin bestellt.

Rz. 2

Durch weiteren Beschluss vom 19.9.2018 hat das AG die Betreuung erweitert auf den Aufgabenkreis "alle Angelegenheiten incl. Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post und Widerruf der Vorsorgevollmacht" sowie die Überprüfungsfrist verlängert.

Rz. 3

Das LG hat die Beschwerden der Betroffenen und ihres vorsorgebevollmächtigten Sohnes, des Beteiligten zu 5), zurückgewiesen. Auf die Rechtsbeschwerde des Sohnes hat der Senat die Entscheidung des LG durch Beschluss vom 22.5.2019 ( FamRZ 2019, 1358) aufgehoben und die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen. Nach Einholung eines aktualisierten Sachverständigengutachtens sowie Anhörung der Betroffenen in Anwesenheit des Verfahrenspflegers hat das LG die Beschwerden erneut zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Sohn wiederum im Wege der Rechtsbeschwerde.

II.

Rz. 4

Die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.

Rz. 5

1. Das LG hat seine Entscheidung wie folgt begründet: Die Betroffene bedürfe der umfassenden Betreuung. Sie sei infolge ihrer senilen Demenz und körperlichen Gebrechlichkeit nicht mehr in der Lage, irgendwelche sie betreffenden Angelegenheiten selbst wahrzunehmen. Sie sei körperlich immobil, könne auch einen Stift nicht richtig greifen und ihren Namen nicht selbstständig schreiben. Ihren Sohn habe sie bei der Anhörung nicht erkannt und auch ihr Geburtsdatum habe sie nicht gewusst. Sie habe beständig geäußert, "nach Hause" zu wollen, ohne diesen Ort näher bezeichnen zu können. Aus dem vorhandenen Krankheitsbild der senilen Demenz folge ihr Unvermögen zur Besorgung ihrer Angelegenheiten. Trotz der dem Sohn erteilten Vollmacht sei eine Betreuung unentbehrlich. Dieser sei nicht geeignet, die Angelegenheiten der Betroffenen zu besorgen. Mit der Pflege seiner Mutter sei er ebenso überfordert wie mit deren etwaiger Organisation. Seit Aufnahme der Betroffenen in ein Pflegeheim mache er von der Vorsorgevollmacht treuwidrig keinen Gebrauch. Er nehme keine Zahlungen an das Heim vor, stelle keine Leistungsanträge und lasse die Post ungeöffnet. Zudem sei er gesundheitlich ungeeignet aufgrund eigener kombinierter Persönlichkeitsstörung mit expansiv-querulatorischen, reizbar-explosiven und paranoiden Anteilen.

Rz. 6

2. Die angefochtene Entscheidung hält einer rechtlichen Nachprüfung stand. Das LG hat die Voraussetzungen für die Einrichtung einer Betreuung mit dem bezeichneten Aufgabenkreis rechtsfehlerfrei festgestellt.

Rz. 7

a) Gemäß § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB bestellt das Betreuungsgericht dem Betroffenen einen Betreuer, wenn jener aufgrund einer psychischen Krankheit seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann. Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf dieser nur für einen Aufgabenkreis bestellt werden, in dem die Betreuung erforderlich ist.

Rz. 8

aa) Für welchen Aufgabenkreis ein Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Dabei genügt es, wenn ein Handlungsbedarf in dem betreffenden Aufgabenkreis jederzeit auftreten kann (BGH, Beschl. v. 23.1.2019 - XII ZB 397/18 FamRZ 2019, 638 Rz. 12 m. w. N.).

Rz. 9

Die Bestellung eines Betreuers für "alle Angelegenheiten" greift in das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen in umfassender Weise ein. Denn dadurch wird dem Betreuer die Befugnis verliehen, in jeder Hinsicht für den Betroffenen im Rechtsverkehr aufzutreten. Sie kommt deshalb nach dem Erforderlichkeitsgrundsatz nur in Betracht, wenn der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zusätzlich bedarf es konkreter Darlegung, dass in sämtlichen Bereichen, die das Leben des Betroffenen ausmachen, ein Handlungsbedarf besteht (vgl. BGH, Beschl. v. 12.6.2019 - XII ZB 51/19 FamRZ 2019, 1647 Rz. 16).

Rz. 10

Gemäß § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB ist die Betreuung nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können. Aufgrund dieser Vorschrift ist die Einrichtung einer rechtlichen Betreuung grundsätzlich nachrangig zu einer wirksam erteilten Vorsorgevollmacht (BGH, Beschl. v. 28.3.2012 - XII ZB 629/11, FamRZ 2012, 969 Rz. 10).

Rz. 11

bb) Nach diesem Maßstab hat das LG den Betreuungsbedarf in allen Angelegenheiten rechtsfehlerfrei festgestellt. Es hat ausgeführt, dass die Betroffene infolge ihrer senilen Demenz und körperlichen Gebrechlichkeit nicht mehr in der Lage ist, irgendwelche sie betreffenden Angelegenheiten selbst wahrzunehmen. Das Unvermögen umfasst somit sämtliche Bereiche, die das Leben der Betroffenen ausmachen.

Rz. 12

cc) Der Handlungsbedarf ist hier auch nicht dadurch beschränkt, dass die Betroffene ihrem Sohn Vorsorgevollmacht erteilt hat. Eine Vorsorgevollmacht steht der Bestellung eines Betreuers nämlich dann nicht entgegen, wenn der Bevollmächtigte ungeeignet ist, die Angelegenheiten des Betroffenen zu besorgen, insb. weil zu befürchten ist, dass die Wahrnehmung der Interessen des Betroffenen durch jenen eine konkrete Gefahr für das Wohl des Betroffenen begründen (BGH, Beschl. v. 7.8.2013 - XII ZB 671/12 FamRZ 2013, 1724 Rz. 8). Dies hat das LG hier in tatrichterlicher Verantwortung rechtsfehlerfrei bejaht.

Rz. 13

b) Ebenfalls zu Recht ist dem Betreuer der gesonderte Aufgabenkreis des Vollmachtwiderrufs zugewiesen worden.

Rz. 14

aa) Allerdings beinhaltet die Befugnis zum Vollmachtwiderruf einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff und muss deswegen dem Betreuer als eigener Aufgabenkreis ausdrücklich zugewiesen werden (vgl. BGH BGHZ 206, 321 = FamRZ 2015, 1702 Rz. 10 ff.). Das gilt wegen des damit verbundenen besonderen Prüfungsmaßstabs auch dann, wenn im Übrigen eine Betreuung für alle Angelegenheiten eingerichtet ist.

Rz. 15

Soll dem Betreuer die Ermächtigung zum Vollmachtwiderruf übertragen werden, setzt dies tragfähige Feststellungen voraus, dass das Festhalten an der erteilten Vorsorgevollmacht eine künftige Verletzung des Wohls des Betroffenen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und in erheblicher Schwere befürchten lässt. Sind behebbare Mängel bei der Vollmachtausübung festzustellen, erfordert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz grundsätzlich zunächst den Versuch, durch einen zu bestellenden (Kontroll-)Betreuer auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken, insb. durch Verlangen nach Auskunft und Rechenschaftsablegung (§ 666 BGB) sowie die Ausübung bestehender Weisungsrechte. Nur wenn diese Maßnahmen fehlschlagen oder ein solches Vorgehen aufgrund feststehender Tatsachen mit hinreichender Sicherheit als ungeeignet erscheint, drohende Schäden auf diese Weise abzuwenden, ist die Ermächtigung zum Vollmachtwiderruf, der die ultima ratio darstellt, verhältnismäßig (BGH, Beschl. v. 5.6.2019 - XII ZB 58/19 FamRZ 2019, 1355 Rz. 22 m. w. N.).

Rz. 16

bb) Diese Voraussetzungen sind hier gegeben. Nach den Feststellungen des LG ist der Sohn als Vorsorgebevollmächtigter seiner 96-jährigen Mutter dauerhaft ungeeignet. Er hat seine Vollmacht nicht in einer ihrem Wohl entsprechenden Weise ausgeübt, so dass die Betroffene vor ihrer Heimunterbringung unterkühlt und dehydriert, eingenässt und nahezu unbekleidet ohne Unterlage eines Bettlakens aufgefunden wurde. Um Behördenangelegenheiten sowie die Post kümmert sich der Sohn nicht. Er äußert wahnhafte Vermutungen gegen Verfahrensbeteiligte, sieht sich und seine Mutter als Opfer einer "Betreuungsmafia" und hat auch im Anhörungstermin gegenüber dem Verfahrenspfleger die Beherrschung verloren. Das Heimpersonal berichtet, von ihm regelmäßig laut beschimpft zu werden, er brülle regelrecht und sei launisch. Damit fehlt dem Sohn die notwendige Grundbereitschaft, mit den Pflegepersonen zu kooperieren, ohne die das Wohl eines Betroffenen nicht verlässlich sichergestellt werden kann (vgl. BGH, Beschl. v. 6.7.2016 - XII ZB 131/16 FamRZ 2016, 1668 Rz. 21). Der Sohn ist nicht in der Lage, von der ihm erteilten Vollmacht bestimmungsgemäß Gebrauch zu machen. Da dies auf einer Persönlichkeitsstörung beruht, besteht auch keine Aussicht, auf den Bevollmächtigten positiv einzuwirken.

 

Fundstellen

Haufe-Index 13929441

NJW 2020, 8

FamRZ 2020, 1297

NJW-RR 2020, 1073

ArztR 2020, 304

BtPrax 2020, 188

Rpfleger 2020, 656

ErbR 2020, 753

FF 2020, 330

FamRB 2020, 5

ZNotP 2020, 306

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