Entscheidungsstichwort (Thema)

Erledigung der Hauptsache nur bei zulässiger und begründeter Klage

 

Leitsatz (amtlich)

Ist eine Partei zusammen mit einer anderen Partei als Gesamtschuldner verurteilt worden, entfällt ihre Beschwer nicht schon dadurch, dass die andere Partei den Urteilsbetrag zahlt.

 

Normenkette

ZPO § 511

 

Verfahrensgang

LG Leipzig (Beschluss vom 24.11.2009; Aktenzeichen 3 S 549/08)

AG Leipzig (Beschluss vom 16.10.2008; Aktenzeichen 110 C 5197/07)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Beklagten zu 3) und 4) wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des LG Leipzig vom 24.11.2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt 1.365,41 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die Beklagten zu 3) und 4) wenden sich dagegen, dass das LG ihre Berufung als unzulässig verworfen hat.

Rz. 2

In dem Ausgangsverfahren hat der Kläger gegen die früheren Beklagten zu 1) und 2) sowie die Beklagten zu 3) und 4) Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend gemacht. Bei dem Unfallereignis fuhr der bei der früheren Beklagten zu 2) haftpflichtversicherte frühere Beklagte zu 1) in die Fahrspur des Klägers und kollidierte mit diesem. Neben dem klägerischen Fahrzeug befand sich das Fahrzeug des Beklagten zu 3), das bei der Beklagten zu 4) haftpflichtversichert war. Der Kläger hat behauptet, Anlass für das verkehrswidrige Verhalten des früheren Beklagten zu 1) sei das Verhalten des Beklagten zu 3) gewesen.

Rz. 3

Das AG hat die früheren Beklagten zu 1) und 2) und die Beklagten zu 3) und 4) als Gesamtschuldner zur Zahlung von 796,82 EUR an den Kläger verurteilt und festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, dem Kläger allen weiteren materiellen Schaden aus dem Verkehrsunfall zu ersetzen. Gegen dieses Urteil haben die Beklagten zu 3) und 4) (künftig: Beklagten) Berufung eingelegt und beantragt, die Klage gegen sie abzuweisen. Der Kläger hat zunächst beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Nachdem beide Parteien schriftsätzlich zur Sache Stellung genommen hatten und sich dabei ergeben hatte, dass die Beklagten zu 1) und 2) unstreitig vor Einlegung der Berufung die Klageforderung ausgeglichen hatten, hat der Kläger den Rechtsstreit für erledigt erklärt und beantragt, die Kosten des Berufungsverfahrens den Berufungsführern aufzuerlegen. Diese haben der Erledigungserklärung widersprochen und ihren Klageabweisungsantrag weiter verfolgt.

Rz. 4

Das LG hat dann mit dem angefochtenen Beschluss die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Diese seien durch das angefochtene Urteil nicht (mehr) beschwert, weil die Beklagten zu 1) und 2) die gegen die Beklagten als Gesamtschuldner titulierte Hauptforderung i.H.v. 796,82 EUR nebst Zinsen vollständig ausgeglichen hätten und die Erfüllung dieser Urteilsforderung gem. § 422 Abs. 1 BGB auch gegen die Beklagten und Berufungskläger wirke. Der Rechtsstreit sei daher nach Erlass des erstinstanzlichen Urteils, aber bereits vor Einlegung der Berufung erledigt gewesen. Da die Beklagten der Erledigungserklärung der Klägerin widersprochen und sich damit die Möglichkeit einer Entscheidung auf Grundlage des § 91a ZPO genommen hätten, führe die Erledigung zwischen den Instanzen unter Anwendung des Rechtsgedankens aus § 99 Abs. 1 ZPO dazu, dass das Rechtsmittel infolge der weggefallenen Beschwer nicht statthaft sei. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter.

II.

Rz. 5

1. Die Rechtsbeschwerde ist gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Die Verfahrensgrundrechte auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) und auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gebieten es, den Zugang zu den Gerichten und den in den Verfahrensordnungen vorgesehenen Instanzen nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BGH, Beschl. v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [227 m.w.N.]). Die Rechtsbeschwerde ist begründet, weil das Berufungsgericht gegen diesen Grundsatz verstoßen hat.

Rz. 6

2. Das Berufungsgericht durfte die Berufung der Beklagten nicht als unzulässig verwerfen.

Rz. 7

a) Die Berufung ist gem. § 511 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 ZPO grundsätzlich statthaft und zulässig, weil das Berufungsgericht selbst einen Gegenstandswert von 1.365,41 EUR angenommen hat. Dies ist nicht zu beanstanden. Für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels ist grundsätzlich der Zeitpunkt seiner Einlegung maßgebend (§ 4 Abs. 1 ZPO; BGH, Urt. v. 19.12.1950 - I ZR 7/50, BGHZ 1, 29 ff.). Spätere Verminderungen des Beschwerdegegenstandes bleiben außer Betracht, soweit sie nicht auf willkürlicher Beschränkung des Rechtsmittels durch den Rechtsmittelkläger beruhen (vgl. BGH, Urt. v. 19.12.1950 - I ZR 7/50, a.a.O., 31; Beschl. v. 8.10.1982 - V ZB 9/82, NJW 1983, 1063) oder der Rechtsmittelkläger durch freiwillige Befriedigung des Gegners die Verminderung des Beschwerdegegenstandes herbeigeführt hat und dadurch zu einer entsprechenden Einschränkung seiner Rechtsmittelanträge genötigt ist (vgl. BGH, Urt. v. 16.1.1951 - I ZR 1/50, NJW 1951, 274 [275]). Die Voraussetzungen für eine Ausnahme liegen hier nicht vor, weil die Beklagten als Rechtsmittelkläger den Kläger nicht durch eine freiwillige Zahlung befriedigt haben und auch nichts dafür ersichtlich ist, dass die Zahlung durch die Beklagten zu 1) und 2) im Einverständnis mit den Beklagten erfolgt ist.

Rz. 8

b) Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts sind die Beklagten auch dadurch weiterhin beschwert, dass sie als Gesamtschuldner mit den früheren Beklagten zu 1) und 2) verurteilt worden sind.

Rz. 9

Nach der Rechtsprechung des BGH entfällt die Beschwer einer zur Zahlung verurteilten Partei, wenn sie nach Schluss der letzten mündlichen Verhandlung und vor Einlegung eines Rechtsmittels den Urteilsbetrag vorbehaltlos zahlt (vgl. BGH, Urt. v. 16.11.1993 - X ZR 7/92, NJW 1994, 942 [943]; Beschlüsse v. 25.5.1976 - III ZB 4/76, LM § 511 ZPO Nr. 31; v. 13.1.2000 - VII ZB 16/99, NJW 2000, 1120). Dem steht gleich, wenn ein berechtigter Dritter mit Billigung der verurteilten Partei den Urteilsbetrag zahlt und damit das Schuldverhältnis der Parteien zum Erlöschen bringt (vgl. BGH, Urt. v. 24.6.1953 - II ZR 200/52, LM § 91a ZPO Nr. 4; Beschl. v. 13.1.2000 - VII ZB 16/99, a.a.O.). In diesen Fällen geht die Rechtsprechung von einer materiellen Erledigung der Hauptsache zwischen den Instanzen aus, so dass ein rechtsschutzwürdiges Interesse der verurteilten Partei an der Beseitigung des Urteilsausspruchs nicht mehr besteht. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich der Beklagten nicht vor.

Rz. 10

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann diesen auch nicht die Befriedigung der Klägerin durch Zahlung der Beklagten zu 1) und 2) zugerechnet werden, durch die der Anspruch der Klägerin gem. § 362 BGB erfüllt worden ist. Auch wenn die Klägerin aufgrund der von den Beklagten zu 1) und 2) unstreitig erbrachten Leistung keinen Zahlungsanspruch mehr gegen die Beklagten hat, hätte die Zahlung der Beklagten zu 1) und 2) nur zu einer Erfüllung der von der Klägerin behaupteten Forderung ggü. den Beklagten führen können, wenn diese ebenfalls Schuldner des Urteilsbetrags waren (§ 422 Abs. 1 BGB). Dies haben die Beklagten aber nicht nur im ersten Rechtszug, sondern auch im Berufungsverfahren in Abrede gestellt und demgemäß dem zuletzt im Berufungsverfahren angekündigten Antrag der Klägerin, den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt zu erklären, widersprochen und die Klageabweisung beantragt. Bei dieser Sachlage steht nicht fest, dass die Zahlung der Beklagten zu 1) und 2) geeignet war, den Rechtsstreit zwischen der Klägerin und den Beklagten in der Hauptsache zu erledigen. Vielmehr ist es gerade Gegenstand des Berufungsverfahrens zu klären, ob die gesamtschuldnerische Verurteilung der Beklagten zu Recht erfolgt ist. Im Hinblick darauf ist ein rechtsschutzwürdiges Interesse der Beklagten an der Beseitigung des gegen sie ergangenen Urteils im Rechtsmittelverfahren nicht auszuschließen (vgl. BGH, Beschl. v. 13.1.2000 - VII ZB 16/99, a.a.O.). Eine Beschwer der Beklagten ergibt sich unter diesen Umständen bereits daraus, dass die ergangene Entscheidung des AG ihrem Inhalt nach für sie nachteilig ist und für sie die Möglichkeit besteht, im höheren Rechtszug eine abweichende Entscheidung zu ihren Gunsten zu erlangen (vgl. BGH, Urt. v. 5.1.1955 - IV ZR 238/54, NJW 1955, 545 [546]; v. 7.11.1974 - III ZR 115/72, NJW 1975, 539 f.; Beschl. v. 25.5.1976 - III ZB 4/76, LM § 511 ZPO Nr. 31). Eine solche abweichende Entscheidung ist zugunsten der Beklagten möglich, weil nach den in der Rechtsprechung des BGH entwickelten Grundsätzen die Erledigung der Hauptsache auf den einseitigen Antrag der klagenden Partei hin nur festgestellt werden kann, wenn die eingereichte Klage zulässig und begründet war, aber durch ein nach Anhängigkeit eingetretenes Ereignis gegenstandslos geworden ist (vgl. BGH, Urt. v. 17.7.2003 - IX ZR 268/02, BGHZ 155, 392 [395 m.w.N.]). Dies ist nach dem Vortrag der Beklagten nicht der Fall.

Rz. 11

3. Obgleich es nicht mehr darauf ankommt, weist der Senat darauf hin, dass der Beschluss des Berufungsgerichts auch deswegen fehlerhaft ist, weil es vor seiner Entscheidung nicht der richterlichen Hinweispflicht entsprochen hat und deswegen eine unzulässige Überraschungsentscheidung vorliegt. Vor der Entscheidung, die Berufung als unzulässig zu verwerfen, ist nämlich den Parteien insoweit rechtliches Gehör zu gewähren (vgl. Zöller/Heßler, ZPO, 28. Aufl., § 522 Rz. 6, 13 m.w.N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2598292

NJW 2011, 8

EBE/BGH 2011

NJW-RR 2011, 488

ZAP 2011, 185

DAR 2011, 200

MDR 2011, 384

NJ 2011, 6

NZV 2011, 243

VersR 2011, 815

Info M 2011, 38

PA 2011, 56

RÜ 2011, 162

r+s 2011, 134

Mitt. 2011, 105

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