Leitsatz (amtlich)

a) Der geltend gemachte Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten erhöht als Nebenforderung den Wert des Beschwerdegegenstands nicht, soweit er neben der Hauptforderung geltend gemacht wird, für deren Verfolgung Rechtsanwaltskosten angefallen sein sollen. Soweit diese Hauptforderung jedoch nicht Prozessgegenstand ist, handelt es sich bei dem geltend gemachten Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten nicht um eine Nebenforderung.

b) Der Wert dieses Anteils ist durch eine Differenzrechnung zu ermitteln, bei der von den gesamten nach der Klagedarstellung vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten diejenigen (fiktiven) Kosten abzuziehen sind, die entstanden wären, wenn der Rechtsanwalt auch vorprozessual den Anspruch nur in der Höhe geltend gemacht hätte, wie er Gegenstand der Klage geworden ist.

 

Normenkette

ZPO § 4 Abs. 1 Hs. 2, § 511 Abs. 2 Nr. 1

 

Verfahrensgang

LG Regensburg (Beschluss vom 30.09.2019; Aktenzeichen 23 S 162/18)

AG Cham (Entscheidung vom 01.08.2018; Aktenzeichen 8 C 121/18)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 2. Zivilkammer des LG Regensburg vom 30.9.2019 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 581,11 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger nimmt nach einem Verkehrsunfall die Beklagte zu 1) als Haftpflichtversicherer sowie den Beklagten zu 2) als Fahrer und Fahrzeughalter auf Schadensersatz in Anspruch. Vertreten durch einen Rechtsanwalt machte der Kläger vorgerichtlich einen Sachschaden i. H. v. 1.053,91 EUR geltend, den die Beklagte zu 1) i. H. v. 526,96 EUR regulierte. Die Kosten für die außergerichtliche Vertretung des Klägers durch den Rechtsanwalt wurden nicht beglichen. Mit seiner Klage verlangt der Kläger die Zahlung weiterer 526,96 EUR und die Freistellung von vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltskosten i. H. v. 201,71 EUR (berechnet auf Grundlage der Geltendmachung von 1.053,91 EUR).

Rz. 2

Das AG hat die Klage abgewiesen. Das LG hat die Berufung des Klägers durch Beschluss vom 16.10.2018 als unzulässig verworfen. Der Senat hat durch Beschluss vom 30.4.2019 () auf die Rechtsbeschwerde des Klägers den Beschluss des LG aufgehoben, die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen sowie zur Begründung ausgeführt, dass sich der für die rechtliche Überprüfung erforderliche Sachverhalt und das Rechtsschutzziel des Klägers der angefochtenen Entscheidung nicht mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen lassen.

Rz. 3

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 30.9.2019 hat das LG die Berufung des Klägers, der seine erstinstanzlichen Anträge weiterverfolgt, erneut als unzulässig verworfen und den Streitwert auf 581,11 EUR festgesetzt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Berufung nicht zugelassen worden sei und der Rechtsmittelwert nach § 511 Abs. 2 ZPO nicht erreicht werde. Hinsichtlich der - über die begehrte Zahlung von 526,96 EUR hinausgehenden - vorgerichtlich angefallenen Rechtsanwaltsgebühren sei zu unterscheiden. Soweit diese auf die noch geltend gemachte Hauptforderung i. H. v. 526,96 EUR entfielen, handle es sich um eine nicht streitwerterhöhende Nebenforderung. Bei einem Streitwert von 526,96 EUR entspreche dies einem Betrag von 147,56 EUR. Nur soweit mit der Klage weitere, zuvor angefallene vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren aus einem Streitwert von 1.053,92 EUR geltend gemacht würden, handle es sich um eine weitere Hauptforderung. Diese entspreche 54,15 EUR (der Differenz zwischen 201,71 EUR und 147,56 EUR). Damit ergebe sich insgesamt ein Beschwerdewert von (526,96 EUR + 54,15 EUR =) 581,11 EUR.

II.

Rz. 4

Die gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig erhobene (§§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 575 Abs. 3 Nr. 2 ZPO) Rechtsbeschwerde ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 EUR nicht übersteigt (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO).

Rz. 5

1. Insbesondere hat das Berufungsgericht dabei den Wert des vom Kläger mit seiner Berufung weiterverfolgten Antrags auf Freistellung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten nicht zu gering bemessen.

Rz. 6

a) Die Festsetzung des Werts des Beschwerdegegenstands bei Rechtsmitteln richtet sich - wie sich aus § 2 ZPO ergibt - nach den Vorschriften der §§ 3 ff. ZPO (vgl. BGH, Beschl. v. 5.2.2019 - VIII ZR 277/17 NJW 2019, 1531 Rz. 12). Der geltend gemachte Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten erhöht als Nebenforderung den Wert des Beschwerdegegenstands (und entsprechend den Streitwert) nicht, soweit er neben der Hauptforderung geltend gemacht wird, für deren Verfolgung Rechtsanwaltskosten angefallen sein sollen (§ 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO). Soweit diese Hauptforderung jedoch nicht Prozessgegenstand ist, handelt es sich bei dem geltend gemachten Anspruch auf Befreiung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten nicht um eine Nebenforderung, weil es ohne Hauptforderung keine Nebenforderung gibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20.5.2014 - VI ZB 49/12 NJW 2014, 3100 Rz. 5 f.; v. 17.2.2009 - VI ZB 60/07 VersR 2009, 806 Rz. 4 ff.). Danach erhöht die vom Kläger beantragte Freistellung von Rechtsanwaltskosten den Wert des Beschwerdegegenstands, soweit sie denjenigen Teil des vorprozessual i. H. v. 1.053,91 EUR geltend gemachten Sachschadens betrifft, den die Beklagte zu 1) vor Klageerhebung regulierte.

Rz. 7

b) Das Berufungsgericht hat den Anteil der beantragten Freistellung von vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten, der den Wert des Beschwerdegegenstands (und entsprechend den Streitwert) erhöht, entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht zu gering bewertet. Es hat zutreffend angenommen, dass der Wert dieses Anteils durch eine Differenzrechnung zu ermitteln ist, bei der von den gesamten nach der Klagedarstellung vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten diejenigen (fiktiven) Kosten abzuziehen sind, die entstanden wären, wenn der Rechtsanwalt auch vorprozessual den Anspruch nur in der Höhe geltend gemacht hätte, wie er Gegenstand der Klage geworden ist (vgl. KG, Beschl. v. 18.2.2008 - 2 AR 7/08, DAR 2008, 431, juris Rz. 12 [Streitwert]; Feldmann, r+s 2016, 546, 551; Herget, in Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 4 Rz. 13; a. A. LG Saarbrücken, Urt. v. 1.6.2018 - 13 S 151/17, NJW-RR 2018, 1339 Rz. 22 [Streitwert]; Schneider, in: Schneider/Volpert/Fölsch, Gesamtes Kostenrecht, 2. Aufl., § 43 GKG Rz. 29 ff.; ders., AGS 2018, 407, 408; Wern, in: Geigel, Der Haftpflichtprozess, 28. Aufl., Kap. 40 Rz. 26; offen OLG Braunschweig, Beschl. v. 26.11.2019 - 1 W 82/19, NJW-RR 2020, 317 Rz. 14 ff. [Streitwert]).

Rz. 8

Denn entsprechend ist nicht nur der Wert des Prozesskostenanteils zu ermitteln, der auf den einseitig für erledigt erklärten Teil eines Rechtsstreits entfällt (vgl. BGH, Beschl. v. 31.3.2020 - XI ZR 577/18, juris Rz. 4; v. 27.9.2017 - VIII ZR 100/17, AGS 2018, 124, juris Rz. 2; v. 2.2.2016 - XI ZR 138/15, juris Rz. 3; v. 2.6.2015 - XI ZR 323/14, juris; v. 28.1.2010 - III ZR 47/09, juris Rz. 5; v. 13.7.2005 - XII ZR 295/02 NJW-RR 2005, 1728, juris Rz. 10; v. 25.9.1991 - VIII ZR 157/91, WM 1991, 2009, juris Rz. 3 f.; v. 13.7.1988 - VIII ZR 289/87 NJW-RR 1988, 1465, juris Rz. 4; s. weiter BGH, Beschluss vom 18.9.2018 - VI ZB 26/17 NJW-RR 2019, 189 Rz. 7). Bei einer Teilerledigungserklärung ist eine solche Differenzrechnung auch hinsichtlich der vorprozessual angefallenen Rechtsanwaltskosten durchzuführen (vgl. BGH, Beschl. v. 27.9.2017 - VIII ZR 100/17, AGS 2018, 124, juris Rz. 3 [Streitwert]).

Rz. 9

Es ist nicht ersichtlich, warum die Wertermittlung bei behauptetem teilweisen Erlöschen der (Haupt-)Forderung vor Klageerhebung (wie im vorliegenden Fall) anders erfolgen sollte als bei behauptetem teilweisen Erlöschen der (Haupt-)Forderung nach Klageerhebung und anschließender Teilerledigungserklärung. Im Übrigen weist die Rechtsbeschwerde zwar zutreffend darauf hin, dass dem Anspruch des Geschädigten auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten im Verhältnis zum Schädiger grundsätzlich der Gegenstandswert zugrunde zu legen ist, der der berechtigten Schadensersatzforderung entspricht (vgl. BGH, Urt. v. 5.12.2017 - VI ZR 24/17 NJW 2018, 935 Rz. 2, 7 f.; v. 9.1.2018 - VI ZR 82/17 NJW 2018, 937 Rz. 2 ff., 9 f.), und dass bei einer nicht begründeten Zuvielforderung keine anteilige Kürzung erfolgt, die wegen der degressiven Gebührensteigerung zu geringeren ersatzfähigen Rechtsanwaltskosten führen würde (vgl. BGH, Urt. v. 7.11.2007 - VIII ZR 341/06 NJW 2008, 1888 Rz. 10, 13; Schneider, AnwBl. 2008, 282; Enders, JurBüro 2008, 169). Aus diesem materiell-rechtlichen Maßstab können jedoch keine Schlüsse zur Abgrenzung sowie anteiligen Bewertung von Haupt- und Nebenforderung i. S. v. § 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO gezogen werden. Schließlich ist die mögliche Auswirkung, "dass sich der Wert [...] im Laufe des Verfahrens beliebig durch Klageerweiterungen oder rücknahmen ändern könnte", entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde kein "unerträgliche[s] Ergebnis" der Differenzberechnung. Vielmehr ist es nicht ungewöhnlich, dass Klageerweiterungen und -rücknahmen Auswirkungen auf Beschwerde- und Streitwert haben.

Rz. 10

2. Danach liegt auch kein Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren vor, da das Berufungsgericht dem Kläger den Zugang zur Berufungsinstanz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 14027860

NJW 2020, 3174

JurBüro 2020, 544

ZAP 2020, 899

AnwBl 2020, 686

DAR 2020, 595

JZ 2020, 602

MDR 2020, 1149

MDR 2020, 1235

VRS 2020, 76

VersR 2020, 1613

VRA 2020, 173

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