Entscheidungsstichwort (Thema)

Verkehrsordnungswidrigkeit

 

Tenor

Hat der Richter nach § 77 b OWiG zunächst von einer schriftlichen Begründung des Urteils abgesehen, beginnt die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde für die Staatsanwaltschaft, die an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, allein mit der Zustellung eines mit Gründen versehenen Urteils.

 

Gründe

I.

1. Das Amtsgericht hat den Betroffenen in einer Hauptverhandlung am 15. September 1997, an der die Staatsanwaltschaft nicht teilgenommen hat, wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften zu einer Geldbuße von 500 DM verurteilt. Von der Anordnung eines Fahrverbots hat es abgesehen.

Das Urteil wurde der Staatsanwaltschaft am 10. November 1997 ohne Gründe zugestellt, da diese vor der Hauptverhandlung keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt und der Betroffene nicht innerhalb der Frist Rechtsbeschwerde eingelegt hatte. Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Rechtsbeschwerde ein, die am 14. November 1997 bei Gericht einging. Daraufhin fertigte der Richter einen Vermerk, der die Gründe für das Absehen von der Verhängung eines Fahrverbots nannte, zugleich aber erklärte, diese Urteilsgründe könnten wegen Ablaufs der Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO nicht mehr zu den Akten gebracht werden. Dieser Vermerk wurde der Staatsanwaltschaft am 8. Dezember 1997 zugestellt. Die Staatsanwaltschaft begründete ihre Rechtsbeschwerde mit einem am 7. Januar 1998 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz.

2. Das zur Entscheidung über die Rechtsbeschwerde berufene Bayerische Oberste Landesgericht hält das Rechtsmittel für zulässig. Die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde habe für die Staatsanwaltschaft mit Zustellung des Vermerks des Richters, er könne die Urteilsgründe nicht mehr zu den Akten bringen, begonnen. Eine vorherige Begründung der Rechtsbeschwerde sei der Beschwerdeführerin nicht zumutbar gewesen.

Das Bayerische Oberste Landesgericht beabsichtigt deshalb, in der Sache zu entscheiden. Daran sieht es sich durch einen Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 21. Februar 1990 - 2 Ss (OWi) 48/90 - (NdsRpfl. 1990, 257 f.) gehindert. Dort war die Auffassung vertreten worden, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde beginne grundsätzlich gemäß § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 OWiG im Anschluß an die Frist zur Einlegung des Rechtsmittels zu laufen, wenn das Urteil gemäß § 77 b Abs. 1 OWiG ohne Gründe zugestellt worden sei. Werde die schriftliche Urteilsbegründung gemäß § 77 b Abs. 2 OWiG nachgeholt, so werde diese Frist mit Zustellung des nachträglich mit Gründen versehenen Urteils erneut in Lauf gesetzt. Erkläre jedoch der Bußgeldrichter, er werde die Urteilsgründe nicht mehr nachträglich zu den Akten bringen, bleibe es bei der sich aus § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO ergebenden Frist. Andernfalls werde dann, wenn der Richter sowohl die Nachholung der Urteilsbegründung als auch die Erklärung, er verzichte hierauf, unterlasse, die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde nicht in Lauf gesetzt. Dann bleibe die Rechtskraft des Urteils in der Schwebe (vgl. dazu auch Thüringer OLG RAnB 1996, 258 f.).

Das Bayerische Oberste Landesgericht hat die Sache daher dem Bundesgerichtshof mit der Frage vorgelegt:

„Kann, sofern die Staatsanwaltschaft nicht an der Hauptverhandlung teilgenommen und vor dieser auch keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt hat, allein die Zustellung des nach § 77 b Abs. 2 2. Alternative OWiG ergänzten Urteils die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde in Gang setzen?”

3. Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:

„Hat die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen und zuvor auch keine schriftliche Begründung des Urteils beantragt, setzt die Zustellung einer gemäß § 77 b Abs. 1 OWiG in zulässiger Weise nicht mit Gründen versehenen Entscheidung im Anschluß an den Ablauf der Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde die Frist zu ihrer Begründung grundsätzlich nicht in Gang, es sei denn, die Zustellung ist mit der gleichzeitigen Erklärung des Richters verbunden, daß eine nachträgliche schriftiche Begründung nicht mehr erfolgt.”

II.

Die Vorlegungsvoraussetzungen gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG i.V.m. § 121 Abs. 2 GVG sind erfüllt. Das Bayerische Oberste Landesgericht kann nicht wie beabsichtigt entscheiden, ohne von den tragenden Gründen der genannten Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle abzuweichen. Denn die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde wäre hier zur Zeit des Eingangs der Rechtsbeschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft bereits abgelaufen, das Rechtsmittel also unzulässig, wenn diese Frist mangels Zustellung eines nachträglich mit Gründen versehenen Urteils unmittelbar im Anschluß an die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde zu laufen begonnen hätte.

III.

Hat der Richter nach § 77 b OWiG zunächst von einer schriftlichen Begründung des Urteils abgesehen, beginnt die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde für die Staatsanwaltschaft, die an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, allein mit der Zustellung eines mit Gründen versehenen Urteils.

1. Nach § 77 b Abs. 2 OWiG tritt dann, wenn die Staatsanwaltschaft an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hatte, die Zustellung des Urteils ohne Gründe als Form der Bekanntmachung (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 35 Abs. 2 Satz 1 StPO) an die Stelle der mündlichen Urteilsverkündung. Sie setzt die Frist zur Einlegung der Rechtsbeschwerde in Lauf (vgl. BayObLGSt 1996, 61 ff. = JR 1996, 433 f. mit Anm. Göhler). Wird Rechtsbeschwerde eingelegt, so „sind innerhalb der in § 275 Abs. 1 Satz 2 der Strafprozeßordnung vorgesehenen Frist” die Urteilsgründe „zu den Akten zu bringen” (§ 77 b Abs. 2 OWiG). Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch dann, wenn der Richter bei Zustellung des nicht mit Gründen versehenen Urteils nur versehentlich vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 77 b Abs. 1 OWiG für ein Absehen von der Begründung des Urteils ausgegangen war (BGHSt 43, 22 ff. = JR 1998, 74 ff. mit Anm. Gollwitzer). Bringt er nachträglich die Urteilsgründe zu den Akten, so setzt die Zustellung des mit Gründen versehenen Urteils die Frist zur Begründung der Rechtsbeschwerde in Lauf (§ 79 Abs. 3 OWiG i.V.m. § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO; vgl. BayObLGSt 1996, 101 ff.). Denn § 345 Abs. 1 Satz 2 StPO knüpft nicht bereits an die Zustellung eines nach § 77 b Abs. 1 Satz 1 OWiG noch nicht mit Gründen versehenen Urteils an. Er setzt vielmehr die Zustellung des vollständigen Urteils voraus. Nur so kann der Rechtsmittelführer sachgerecht prüfen, ob er die Durchführung des Rechtsmittelverfahrens veranlassen und in welchem Umfang sowie mit welcher Begründung er das Urteil gegebenenfalls anfechten will (vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 345 Rdn. 5; Pikart in KK 3. Aufl. § 345 StPO Rdn. 6).

2. § 77 b Abs. 2 OWiG sieht vor, daß der Richter, der zunächst nach Abs. 1 dieser Vorschrift von einer schriftlichen Begründung absehen durfte, diese nachholt, wenn von der Staatsanwaltschaft Rechtsbeschwerde eingelegt wird. Dazu steht ihm die Frist des § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO zur Verfügung. Diese Frist beginnt indes erst mit der Einlegung der Rechtsbeschwerde und nicht schon mit der Urteilsverkündung (vgl. Brandenburgisches OLG VRS 94 (1998), 279 = OLGSt OWiG § 77 b Nr. 1; Rebmann/Roth/Herrmann, OWiG 2. Aufl. § 77 b Rdn. 5; Senge in KK OWiG § 77 b Rdn. 9); sie ist keine Ausschlußfrist, nach deren Ablauf das Urteil nicht mehr begründet werden dürfte (vgl. Gollwitzer in LR 24. Aufl. § 267 Rdn. 144 m.w.Nachw.). Eine Pflicht zur Absetzung besteht unabhängig davon, ob die Urteilsabsetzungsfrist eingehalten ist oder eingehalten werden kann (Gollwitzer aaO § 275 Rdn. 18). Eine Erklärung des Richters, er werde das angefochtene Urteil nicht mehr mit Gründen versehen, sieht das Gesetz nicht vor; sie hat deshalb keine Rechtswirkung.

Die Absetzung der Gründe nach Ablauf der Frist ist auch aus Gründen der Verfahrensvereinfachung geboten: Der Beschwerdeführer kann an Hand der Gründe prüfen, ob er das Urteil ganz oder teilweise anfechten und ob er seine Rechtsbeschwerde auf Verstöße gegen sachliches Recht oder Verfahrensrecht stützen will. Insbesondere ist die Staatsanwaltschaft erst an Hand der Urteilsgründe zu der ihr nach Nr. 147 Abs. 1 Satz 2 RiStBV obliegenden Prüfung in der Lage, ob das Urteil trotz eines Rechtsfehlers unangefochten bleiben kann, weil die Entscheidung im Ergebnis der Sachlage entspricht.

 

Unterschriften

Schäfer, Granderath, Wahl, Boetticher, Landau

 

Fundstellen

Haufe-Index 539635

BGHSt, 190

NStZ 1999, 139

ZAP 1999, 108

wistra 1999, 29

MDR 1999, 183

VRS 1998, 413

StraFo 1999, 123

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