Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsstreit zwischen Leistungsträgern der Sozialhilfe: Zulässigkeit einer Feststellungsklage. Abgrenzung von ambulanten zu stationären Leistungen. Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzelwohnen. Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers in Bayern

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zu den Voraussetzungen eines Grundurteils im Erstattungsstreit zwischen Leistungsträgern der Sozialhilfe.

2. Soweit es um die Feststellung der zukünftigen sachlichen Zuständigkeit für den Leistungsfall geht (Fallübernahme), ist eine Feststellungsklage (§ 55 SGG) zulässig.

3. Zur Abgrenzung von ambulanten zu stationären Leistungen.

4. Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzelwohnen erfordert eine Ausrichtung auf die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich.

5. Die Ausnahmeregelung des Art. 82 Abs. 2 BayAGSG (Allzuständigkeit des überörtlichen Trägers, Leistungen aus einer Hand) ist einschränkend auszulegen.

6. Es darf nicht jede Form der Eingliederungshilfe zu einer Zuständigkeit der überörtlichen Träger (Bezirke) im Sinne von Art. 82 Abs. 1 Nr. 2 BayAGSG führen, weil die sonst vom Landesgesetzgeber noch vorgesehene Trennung (stationär/ambulant) für die Leistungen der Pflege konterkariert würden.

 

Orientierungssatz

1. Von einer vollstationären Einrichtung im Sinne von § 13 SGB XII und damit auch im Sinne von Art 82 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BayAGSG kann nur dann gesprochen werden, wenn der gesamte Bedarf des Hilfebedürftigen nach § 9 Abs. 1 SGB XII in der Einrichtung in einrichtungsspezifischer Weise befriedigt wird. Eine stationäre Einrichtung übernimmt für den Hilfebedürftigen die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung.

2. Bei der Abgrenzung von stationären zu ambulanten Angeboten ist es für die rechtliche Qualifikation der Leistung ohne Belang ist, ob und wie sich eine Einrichtung bezeichnet und es ebenso wenig von Belang ist, wie die Leistungen in den zwischen Leistungserbringer und den Sozialhilfeträgern abgeschlossenen Vereinbarungen bezeichnet werden (BSG, 23. Juli 2015, B 8 SO 7/14 R).

 

Normenkette

SGB XII § 97 Abs. 1, 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4, § 98 Abs. 1, 5, §§ 13, 9 Abs. 1, § 65 Abs. 1 S. 2, § 53 Abs. 1-2, § 54 Abs. 1; SGG §§ 55, 54 Abs. 5, § 130 Abs. 1 S. 1, § 75 Abs. 1, 2 1. Alt; BayAGSG Art. 80, 82 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2; SGB X § 111; SGB XI §§ 120, 124, 36, 43 Abs. 1, §§ 45b, 71 Abs. 2, 4; WBVG § 1; SGB IX § 55 Abs. 2 Nr. 6

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 15. Oktober 2014, S 22 SO 325/13, wird zurückgewiesen.

II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist im Erstattungswege die sachliche Zuständigkeit für die Leistungsgewährung an den Beigeladenen zu 1) nach dem 4. und 7. Kapitel des Sozialgesetzbuches XII (SGB XII) gemäß Art. 82 Abs. 2 BayAGSG i.V.m. § 97 Abs. 4 SGB XII.

Bei dem im Jahre 1968 geborenen Leistungsempfänger, dem Beigeladenen zu 1), besteht infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung eine schwere geistige Behinderung und aufgrund der Folgen eines Sturzes im Jahre 2002 eine massive körperliche Behinderung (hohe Querschnittslähmung). Er erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III und steht unter rechtlicher Betreuung. Der Beigeladene zu 1) ist schwerbehinderter Mensch mit den Merkzeichen G, H, RF und bezieht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung Bund.

In der Zeit vom 16.09.2002 bis 31.05.2006 erhielt der Beigeladene zu 1) vom Beklagten, dem überörtlichen Sozialhilfeträger, stationäre Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt in Einrichtungen, den Barbetrag, Bekleidungsbeihilfe sowie Hilfe zur Pflege. Der Beigeladene zu 1) war seinerzeit in der Einrichtung "A.", A-Straße 12, in A-Stadt untergebracht. In der Zeit vom 01.06.2006 bis 30.11.2007 erhielt der Beigeladene zu 1) ebenfalls vom Beklagten Leistungen für die stationäre Unterbringung in der Pflegeeinrichtung "B." in B-Stadt.

Seit 01.12.2007 lebt der Beigeladene zu 1) in einer Wohngruppe mit ambulanter Pflege nach SGB XI in der A-Straße in A-Stadt und wird von der "C.", C-Straße 6, C-Stadt, der Beigeladenen zu2), ambulant pflegerisch versorgt.

Am 03.12.2007 beantragte der Betreuer des Beigeladenen zu 1) beim Beklagten (überörtlicher Sozialhilfeträger) Leistungen der Sozialhilfe, unter anderem der Hilfe zur Pflege. Er gab an, es habe sich für den Beigeladenen zu 1) "kurzfristig die Möglichkeit ergeben, in eine Wohngruppe unter ambulanter Pflege nach SGB XII zu ziehen". Er legte dem Beklagten den Mietvertrag vom 29.11.2007 über teilmöblierte Räume mit dem Vermieter (300 € monatliche Miete), den Servicevertrag vom 29.11.2007 (volle Verpflegung, Wäschewaschen, Reinigung, Betreuung, monatlich 650 €) und den Pflegevertrag vom 01.12.2007 über die Erbringung ambulante...

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