Entscheidungsstichwort (Thema)

Elterngeld. Anspruchsberechtigung. Wohnsitz in Deutschland. vorübergehender Auslandsaufenthalt der gesamten Familie. Aufrechterhaltung des Wohnsitzes. Schwerpunkt der Lebensverhältnisse. keine feste zeitliche Grenze

 

Leitsatz (amtlich)

1. Bei einem vorübergehenden Auslandsaufenthalt kommt es für die Frage, ob ein Wohnsitz in Deutschland aufrechterhalten bleibt, darauf an, ob in Deutschland weiterhin ein Schwerpunkt der Lebensverhältnisse besteht.

2. Die Dauer des Auslandsaufenthalts ist nicht unmittelbares und alleiniges Kriterium für die Beurteilung; feste zeitliche Grenzen existieren nicht. Sie geht vielmehr als wichtiger Gesichtspunkt in eine Abwägung aller Umstände ein.

 

Orientierungssatz

1. Bei einem Auslandsaufenthalt der gesamten Familie (hier von zunächst einem Jahr mit Verlängerungsmöglichkeit) wird der inländische Wohnsitz schon dann beseitigt, wenn die Abwesenheit so gestaltet ist, dass bei wertender Betrachtung die inländische Wohnung ihre Funktion als räumlicher Lebensmittelpunkt einbüßt.

2. Für die Beibehaltung eines inländischen Wohnsitzes neben dem Auslandswohnsitz ist eine "horizontale" Aufteilung der Lebensverhältnisse dergestalt erforderlich, dass das alltägliche Leben sowohl im Ausland als auch in Deutschland stattfindet (iS eines "zwischenzeitlichen Wohnens" vgl BSG vom 24.6.1998 - B 14 KG 2/98 R = SozR 3-5870 § 2 Nr 40).

3. Auf eine tatsächliche Benutzung der inländischen Wohnung kann dann verzichtet werden, wenn Vorsorge getroffen ist, dass eine dauerhafte Rückkehr in die Wohnung jederzeit möglich ist (vgl BSG vom 3.11.1993 - 14b REg 5/93 und vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 14/94 = SozR 3-5870 § 2 Nr 36). Dies ist aber nicht der Fall, wenn der eine Ehepartner arbeitsrechtlich an das Ausland gebunden ist und der andere Ehepartner die Familiengemeinschaft aufrechterhalten will.

4. Bei einem auf mindestens ein Jahr angelegten Auslandsaufenthalt der gesamten Familie handelt es sich nicht nur um eine kurzfristige und unbeachtliche Unterbrechung im Innehaben der inländischen Wohnung (vgl BSG vom 27.4.1978 - 8 RKg 2/77 = Praxis 1978, 333; Abgrenzung zu BSG vom 20.12.2012 - B 10 EG 16/11 R = SozR 4-7837 § 12 Nr 1).

5. Eine Ausstrahlung in das deutsche Sozialversicherungsrecht iS des § 1 Abs 2 S 1 Nr 1 idF vom 5.12.2006 iVm § 4 Abs 1 SGB 4 liegt nicht vor, wenn lediglich nur noch ein Rumpfarbeitsverhältnis zum inländischen Arbeitgeber besteht (vgl BSG vom 24.6.2010 - B 10 EG 12/09 R = SozR 4-7833 § 1 Nr 11).

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 27.03.2020; Aktenzeichen B 10 EG 7/18 R)

 

Tenor

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 10. Mai 2016 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Der Rechtsstreit betrifft das Begehren der Klägerin, Elterngeld für Betreuung und Erziehung ihrer Tochter zu erhalten. Streitig sind die Leistungsvoraussetzungen dem Grunde nach.

Die 34-jährige Klägerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie ist die Mutter des am 02.08.2013 geborenen Kindes A.. A. wurde in G., Volksrepublik China, geboren. Vor A.s Geburt arbeitete die Klägerin seit 15.10.2010 bei der A. GmbH & Co. KG, O-Stadt, als "Gruppenleitung Qualitätskontrolle" in einer Vollzeitbeschäftigung.

Am 15.10.2013 beantragte die Klägerin Elterngeld für den ersten bis zwölften Lebensmonat von A. (02.08.2013 bis 01.08.2014). Während dieses Zeitraums war sie mit dem Vater des Kindes verheiratet und lebte mit diesem sowie mit A. in einem Haushalt zusammen. Ein weiteres Kind gab es vor und während des gewünschten Elterngeld-Bezugszeitraums im Haushalt der Familie A. nicht.

Während der ersten zwölf Lebensmonate von A. hielt sich die Familie in der Volksrepublik China auf. Dies war bedingt durch die beruflichen Verhältnisse des Ehemanns der Klägerin, der damals bei B. beschäftigt war. Vom 01.07.2013 bis einschließlich 25.10.2014 arbeitete der Ehemann bei einer Tochterfirma von B. in China, wobei ihn seine Familie begleitete. Mit der chinesischen Tochterfirma schloss er einen gesonderten Arbeitsvertrag. Das Arbeitsverhältnis mit der B. AG in Deutschland wurde ruhend gestellt. Im Detail gestaltete sich der Auslandsaufenthalt folgendermaßen:

* Angebahnt wurde die Auslandsbeschäftigung etwa Mitte 2012, als die B. AG erstmals das Thema F. mit dem Ehemann im Rahmen dessen persönlicher Weiterentwicklung diskutierte. Gegen Ende 2012/Anfang 2013 wurde die Planung konkreter, so dass ein erstes Treffen mit der zuständigen Personalstelle stattfand. Das "offizielle Verfahren" zur Realisierung des Auslandsaufenthalts wurde am 01.02.2013 eingeleitet (Versendung der so genannten Einzelpersonalanforderung).

* Arbeitsvertraglich regelte man den Auslandsaufenthalt durch einen so genannten Global Assignment Vertrag zwischen der B. AG und dem Ehemann der Klägerin. Die Essentialia der Regelung wurden in einen Vertragsteil "Short Term - ruhendes Arbeitsverhältnis" aufgenommen. Der Ehemann der Klägerin, so der Vertrag, werde mit Wirkung vom 01.07.2013 ...

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