Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigüngsschütz eines Wahlvorstandsmitglieds. Änderüngskündigüng

 

Leitsatz (amtlich)

1. Dem Mitglied eines Wahlvorstands steht der besondere Kündigungsschutz des § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG auch dann zu, wenn in dem Betrieb noch kein Betriebsrat besteht. Hier muß der Arbeitgeber, bevor er eine außerordentliche Kündigung wirksam aussprechen kann, analog § 103 Abs. 2 BetrVG das Zustimmungsverfahren beim Arbeitsgericht erfolgreich durchgeführt haben.

2. Das gilt auch für den Fall der Änderungskündigung, die sich gegen den Arbeitnehmer als einzelnen richtet.

 

Normenkette

KSchG 1969 § 15; BetrVG 1972 § 103; BGB § 134

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Urteil vom 25.03.1975; Aktenzeichen 2 AZR 303/75)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 25. März 1975 – 7 Sa 1127/74 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten der Revision.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger war bei der Beklagten seit Februar 1969 zuletzt als Vorarbeiter beschäftigt. Anfang 1974 wurden bei der Beklagten, bei der bis dahin kein Betriebsrat bestanden hatte, Vorbereitungen zur Wahl eines Betriebsrats (Betriebsobmanns) getroffen. Der Kläger wurde am 8. Februar 1974 in den Wahlvorstand gewählt. Am 13. März 1974 sprach die Beklagte dem Kläger gegenüber wegen „pflichtwidrigen Verhaltens” eine außerordentliche Änderungskündigung aus, als deren Folge ihm seine Aufgaben als Vorarbeiter entzogen wurden.

Mit seiner Klage wendet sich der Kläger gegen diese Kündigung. Darüber hinaus beansprucht er die Zahlung einer Lohndifferenz von 1,– DM je Arbeitsstunde, die ihm nach dem Entzug seiner Vorarbeitertätigkeit nicht mehr gezahlt worden war.

Der Kläger hat beantragt festzustellen, daß die Kündigung vom 13. März 1974 nichtig ist und das Arbeitsverhältnis über diesen Zeitpunkt hinaus zu den alten Bedingungen fortbesteht, sowie die Beklagte zu verurteilen, an ihn 454,– DM nebst Zinsen zu zahlen. Die Beklagte hat um Klageabweisung gebeten.

Beide Vorinstanzen haben der Klage mit der Begründung stattgegeben, für die Rechtswirksamkeit der außerordentlichen Kündigung gegenüber einem Mitglied des Wahlvorstandes bedürfe es der Zustimmung des Arbeitsgerichts gemäß § 103 Abs. 2 BetrVG auch dann, wenn in dem Betrieb ein Betriebsrat nicht vorhanden sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Die streitbefangene Kündigung ist mangels vorheriger Zustimmung des Arbeitsgerichts gemäß § 134 BGB nichtig.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, daß die Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung vom 13. März 1974 allein von der Lösung der Rechtsfrage abhängt, wie bei der außerordentlichen Kündigung gegenüber einem Mitglied des Wahlvorstandes zu verfahren ist, wenn im Betrieb erstmals ein Betriebsrat gewählt werden soll.

1. Auszugehen ist im Streitfall von § 15 Abs. 2 KSchG in der Fassung des § 123 Nr. 3 Buchst. b BetrVG, an dessen Stelle mit Wirkung vom 1. April 1974 gemäß § 114 Nr. IV Buchst. b BPersVG die heutige Fassung des § 15 Abs. 3 KSchG getreten ist. Hiernach ist die Kündigung gegenüber einem Wahlvorstandsmitglied u. a. nur zulässig, wenn die nach § 103 BetrVG erforderliche Zustimmung vorliegt oder durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt ist.

Für den hier vorliegenden Fall, daß die Zustimmung im Sinne des § 103 Abs. 1 BetrVG wegen Fehlens des betriebsverfassungsrechtlichen Organs nicht eingeholt werden kann, wird von der Revision in Anlehnung an eine teilweise im Schrifttum und in der Rechtsprechung vertretene Auffassung geltend gemacht, die Kündigung könne ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 103 BetrVG wirksam erklärt werden. Diese Auffassung wird vor allem damit begründet, daß § 103 Abs. 2 BetrVG nur die Ersetzung einer verweigerten Zustimmung durch das Arbeitsgericht vorsehe und die Annahme einer Regelungslücke bei neuen Gesetzen problematisch sei. Auch werde die dem Arbeitsgericht in diesem Zusammenhang zukommende Aufgabe verkannt, wenn ihm statt der Ersetzung einer fehlerhaft verweigerten Zustimmung, deren primäre Erteilung und damit ein Teil des Mitbestimmungsrechtes des Betriebsrates übertragen werde. Der Sinn der Ersetzung der Zustimmung (§ 103 Abs. 2 BetrVG) liege nicht in einer Verstärkung des Kündigungsschutzes, sondern in einer Einschränkung der Macht des Betriebsrats. (vgl. im einzelnen Brecht, BetrVG, § 103 Anm. 3; Etzel, BlfSt. 1972, 86 [92], DB 1973, 1017 Fußnote 2 und BlfSt. 1976 209 zu II, 4; Hueck, KSchG, 9. Aufl., § 15 Anm. 48; Kraft bei Fabricius-Kraft-Thiele-Wiese, Gemeinschaftskommentar BetrVG, § 103 Anm. 8; Meisel, Die Mitwirkung und Mitbestimmung des Betriebsrates in personellen Angelegenheiten, 4. Aufl., S. 221; Stege-Weinspach, BetrVG, 2. Aufl., S. 181; ebenso LAG Baden-Württemberg vom 5.12.1975, BB 1976, 363).

2. Das angefochtene Urteil hat in Übereinstimmung mit der Gegenansicht angenommen, daß in einem solchen Falle aus dem Sinn und Zweck des § 15 Abs. 3 KSchG n.F. in Verbindung mit § 103 BetrVG zu folgern sei, daß vor Ausspruch der außerordentlichen Kündigung eines Mitgliedes des Wahlvorstandes die Zustimmung des Arbeitsgerichts eingeholt werden müsse (so Becker-Schaffner, BlfSt. 1973, 289; Dietz-Richardi, BetrVG, 5. Aufl., § 103 Anm. 21; Fitting-Auffarth-Kaiser, BetrVG, 11. Aufl., § 103 Anm. 11; Fuchs, DB 1976, 677; Gnade-Kehrmann-Schneider, BetrVG, § 103 Anm. 2; Lepke, BB 1973, 894; Linder, ArbuR 1973, 32; Stein, ArbuR 1975, 201; aus der Rechtsprechung: ArbG Würzburg vom 21.11.1972, DB 1972, 2406; ArbG Hamburg vom 13.10.1975, BB 1975, 1530; LAG Düsseldorf vom 19.12.1972, BB 1973, 1029, und vom 16.1.1975, DB 1975, 745; LAG Frankfurt a.M. vom 27.2.1973, BB 1973, 1355 = DB 1973, 1607; LAG Hamm vom 6.2.1975, ArbuR 1975, 219; LAG Baden-Württemberg vom 30.4.1975, BB 1975, 1253 = DB 1975, 2378).

II. Der Senat hält diese Ansicht für zutreffend. Er vermag der von der Revision vertretenen Auffassung aus nachgenannten Erwägungen nicht zu folgen.

1. Eine Auslegung des § 15 Abs. 3 KSchG nach dem Wortlaut führt für die entscheidungserhebliche Frage zu keinem eindeutigen Ergebnis. Die in § 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG aufgestellte Voraussetzung für die Zulässigkeit der Kündigung, „daß die nach § 103 des Betriebsverfassungsgesetzes erforderliche Zustimmung vorliegt oder durch eine gerichtliche Entscheidung ersetzt ist”, könnte auf Grund der beiden Alternativen „Zustimmung des Betriebsrats” einerseits und „gerichtliche Ersetzung der Zustimmung” andererseits dafür sprechen, daß in dem Falle, daß die Zustimmung wegen Fehlens eines Betriebsrates tatsächlich nicht zu erlangen ist, der Weg über eine arbeitsgerichtliche Entscheidung gesucht werden soll. Diese Auslegung der Vorschrift ist jedoch nicht zwingend. Sie läßt unberücksichtigt, daß der Wortsinn des einzelnen Rechtssatzes sich erst dann erschließt, wenn man ihn als Teil der Gesamtregelung betrachtet (vgl. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., S. 307 ff., insbesondere S. 311). Von einem solchen Bedeutungszusammenhang her läßt sich jedoch der Wortsinn auch dahin auslegen, daß die genannten Voraussetzungen des § 103 BetrVG in der Weise gegeben sein müssen, daß das Fehlen der Zustimmung nur dann angenommen wird, wenn der Betriebsrat seine Zustimmung verweigert hat; fehlt aber die Zustimmung – wie im Streitfall – deswegen, weil ein Betriebsrat, der die Zustimmung erteilen oder verweigern kann, nicht vorhanden ist, dann soll die Zustimmung auch nicht „ersetzt” werden können.

2. Aus dieser zuletzt genannten Wortinterpretation läßt sich entgegen der Auffassung der Revision nicht herleiten, der Gesetzgeber habe die eingangs gekennzeichnete Rechtsfrage (Kündigungsschutz der Mitglieder des Wahlvorstands in einem betriebsratslosen Betrieb) nicht geregelt. Vielmehr hält der Senat eine entsprechende Anwendung des § 15 Abs. 3 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG für geboten. Das gilt unabhängig davon, daß die genannten Vorschriften erst seit 1972 gelten.

a) Es ist anerkannt, daß auch ein noch so sorgsam bedachtes Gesetz nicht für jeden einer Regelung bedürftigen Fall, der dem Regelungsbereich des Gesetzes zuzurechnen ist, eine Lösung enthalten kann. Vielmehr ist jedes Gesetz unvermeidbar „lückenhaft” (vgl. Larenz, aaO, S. 350). Dabei ist jedoch zu unterscheiden, ob es sich bei der Gesetzeslücke um eine „planmäßige” oder „planwidrige” Unvollständigkeit des Gesetzes handelt (vgl. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 5. Aufl., S. 137f.; Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, S. 31 ff.). Ob das eine oder das andere der Fall ist, läßt sich regelmäßig daraus entnehmen, ob die einzelne Norm oder ein Normenkomplex eine der Sache nach angemessene Lösung ermöglicht, d. h. ob der Gesetzgeber eine Regelung im Sinne optimaler Berücksichtigung der Interessenlagen sowie eines sachgerechten gerichtlichen Verfahrens gewollt hat (vgl. Larenz, aaO, S. 321, 322).

b) Bei Anwendung dieses Grundsatzes auf die Neufassung des § 15 Abs. 3 KSchG und auf den dort in Bezug genommenen neuen § 103 BetrVG ist davon auszugehen, daß in diesem Normenbereich ein umfassender Lebensbereich geregelt werden sollte, nämlich der besonders weitgehend ausgestaltete Kündigungsschutz für alle Personen, die Aufgaben im Rahmen der Betriebsverfassung zu erfüllen haben. Dann liegt jedoch kein bewußtes Schweigen des Gesetzgebers, sondern eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes vor, wenn bestimmte Sachverhalte nicht deutlich genug erfaßt sind. Daß dem so ist, ergibt sich sowohl aus den Materialien zum Betriebsverfassungsgesetz wie auch aus dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus Wortlaut und Sinnzusammenhang dieser Bestimmungen herleiten läßt.

3. Aus den Gesetzesmaterialien (vgl. Begründung zum Regierungs-Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes, BT-Drucksache VI/1786, S. 53) ergibt sich, daß der besondere Kündigungsschutz deswegen auf die Mitglieder des Wahlvorstandes ausgedehnt worden ist, weil dieser Personenkreis im Hinblick auf mögliche Interessenkonflikte mit dem Arbeitgeber für die Zeit der Wahl in ähnlicher Weise schutzbedürftig erscheint wie die Mitglieder des Betriebsrats selbst. Mit dem Ziel, Betriebsratswahlen leichter durchführen zu können, sollte – wie die Begründung zum Regierungsentwurf hervorhebt – gleichzeitig verhindert werden, daß der Arbeitgeber ihm nicht genehme Mitglieder des Wahlvorstandes von der Wahrnehmung betriebsverfassungsrechtlicher Ämter ausschließt.

4. Diese Beweggründe des Gesetzgebers haben bei der Regelung des Kündigungsschutz- und Betriebsverfassungsgesetzes einmal darin ihren Niederschlag gefunden, daß die ordentliche Kündigung der Mitglieder des Wahlvorstandes während der Wahlzeit nahezu völlig ausgeschlossen ist (vgl. Hueck, aaO, § 15 Anm. 31). Die außerordentliche Kündigung im Sinne des § 626 BGB, der zwingender Natur ist (vgl. die Angaben in BAG AP Nr. 3 zu § 620 BGB Bedingung [zu B II 3 der Gründe], auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt), bleibt zwar zulässig, unterliegt aber zusätzlich der kollektivrechtlichen Kündigungsschutznorm des § 103 BetrVG. Mit dieser Erweiterung des kollektivrechtlichen Kündigungsschutzes auf die Mitglieder des Wahlvorstandes wird eine Grundwertentscheidung des Gesetzgebers dahin gefällt, daß dieser Personenkreis in erhöhtem Maße gegen Kündigungen geschützt werden soll.

Damit will der Gesetzgeber einmal verhindern, daß diese Personengruppe durch willkürliche außerordentliche Kündigungen aus dem Betrieb entfernt wird, und außerdem von vornherein unterbinden, daß durch Ausnutzung der Rechtsmittel im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine lange zeitliche Verzögerung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung erfolgt (vgl. Begründung zum Regierungs-Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes, BT-Drucksache VI/1786, S. 53). Um die Wahl der Betriebsverfassungsorgane und die Kontinuität ihrer Arbeit zu sichern, soll eine außerordentliche Kündigung mit der in aller Regel eintretenden Folge der sofortigen Entfernung des Arbeitnehmers von seinem Arbeitsplatz erst dann zulässig sein, wenn ihre Berechtigung vom Betriebsrat oder vom Arbeitsgericht anerkannt ist (vgl. BAG AP Nr. 1 zu § 103 BetrVG 1972 [zu I 2 der Gründe] und Beschluß vom 20. März 1975 – 2 ABR 111/74 – [demnächst] AP Nr. 2 zu § 102 BetrVG 1972 [zu II 1 b der Gründe], beide auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt).

5. Diese Erwägungen gelten über den ausdrücklich erfaßten Fall des vorhandenen Betriebsrats hinaus auch dann, wenn erstmals ein Betriebsrat gewählt werden soll. Gerade in einem solchen Fall muß die ungestörte Übernahme und die ununterbrochene tatsächliche Ausübung des betriebsverfassungsrechtlichen Amtes als Wahlvorstand gewährleistet sein.

Die Gegenansicht berücksichtigt nicht hinreichend den allgemeinen Gleichheitssatz, dem in diesem Zusammenhang eine hervorragende Bedeutung zukommt. Die unterschiedliche Regelung wertungsmäßig gleichliegender Tatbestände verstößt gegen die Grundsätze, die in dem Normenkomplex des § 15 Abs. 3 KSchG und des § 103 Abs. 1 BetrVG ihren deutlichen und erkennbaren Ausdruck gefunden haben. Der Schutzgedanke, die Ausübung des Amtes als Wahlvorstand und die Kontinuität seiner Arbeit zur Vorbereitung der Betriebsratswahl zu sichern, besteht unabhängig davon, ob ein Betriebsrat vorhanden ist oder nicht.

Es kommt hinzu, daß es eines der großen Anliegen des Betriebsverfassungsgesetzes von 1972 gewesen ist, die Bildung von Betriebsvertretungen zu fördern. Das ergibt sich beispielsweise aus den Vorschriften des § 14 Abs. 7, § 16 Abs. 2 und § 17 BetrVG. Dieser Wertentscheidung des Gesetzgebers, die Einleitung des Wahlverfahrens gerade bei erstmaliger Bildung von Betriebsvertretungen zu erleichtern, das Wahlverfahren zu unterstützen und zu sichern, würde es geradezu zuwiderlaufen, wollte man einem Mitglied des Wahlvorstandes in einem betriebsratslosen Betrieb den kollektiven Kündigungsschutz versagen.

6. Die gesetzlich anerkannte besondere Schutzbedürftigkeit der Mitglieder des Wahlvorstandes wird auch nicht dadurch ausreichend gewährleistet, daß sie für den Fall einer außerordentlichen Kündigung darauf verwiesen werden, im Wege der einstweiligen Verfügung ihre Weiterbeschäftigung oder im Wege einer einstweiligen Anordnung im Beschlußverfahren zumindest die weitere Fortführung ihres Amtes als Wahlvorstand durchzusetzen. Die Zulässigkeit derartiger einstweiliger Regelungen ist streitig (vgl. Dietz-Richardi, aaO, § 25 Anm. 14; Fitting-Auffarth, aaO, § 25 Anm. 17). Selbst wenn die Mitglieder des Wahlvorstandes mit einem solchen Antrag Erfolg hätten, müßten sie in Kauf nehmen, daß sie vorübergehend tatsächlich aus dem Betrieb ausscheiden und damit die Kontinuität des Wahlverfahrens entgegen dem Sinne des Gesetzes nicht gewahrt wäre. Das ist jedoch mit dem besonderen Kündigungsschutz des § 103 BetrVG unvereinbar (vgl. BAG wie oben zu II 4).

7. Die Wahl eines Betriebsrates zu verhindern oder wenigstens erheblich zu verzögern, kann auch durch das Verbot der unzulässigen Wahlbeeinflussung (§ 20 Abs. 2 BetrVG) nicht wirksam ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Darunter fällt zwar auch der Ausspruch einer Kündigung wegen Beteiligung am Wahlverfahren (vgl. Dietz-Richardi, aaO, § 20 Anm. 7; Fitting-Auffarth, aaO, § 20 Anm. 15). Der Schutz des Arbeitnehmers ist aber tatsächlich nicht besonders wirkungsvoll. Beweispflichtig für die Verletzung dieser Vorschrift ist nämlich der Arbeitnehmer (vgl. Dietz-Richardi, aaO, mit weiteren Nachweisen). Auch wenn insoweit die Grundsätze über den Beweis des ersten Anscheins gelten, ist für den Arbeitnehmer nicht viel gewonnen. Dieser Beweis wird nämlich regelmäßig dann nicht eingreifen, wenn die vom Arbeitgeber vorgebrachten Tatsachen immerhin einen wichtigen Grund bilden können. Dann bedarf es aber in der Regel einer Beweisaufnahme, um festzustellen, ob die vom Arbeitgeber angegebenen Kündigungsgründe zutreffen oder nur vorgeschoben sind. Im Ergebnis ist deshalb die Stellung des fristlos entlassenen Mitgliedes eines Wahlvorstandes nur theoretisch verbessert. Ein vorübergehendes Ausscheiden des Mitgliedes des Wahlvorstandes wäre ohne Geltung des besonderen Kündigungsschutzes ohnehin nicht zu verhindern.

8. Schließlich werden auch die Interessen des Arbeitgebers nicht entscheidend berührt, wenn er vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung erst ein Zustimmungsverfahren nach § 103 Abs. 2 BetrVG durchführen muß. Er braucht ohnehin nur kurzzeitig zu warten, bis er ohne diese Beschränkung außerordentlich kündigen kann; denn das Kündigungsschutzprivileg aus § 103 BetrVG ist auf die Zeit bis zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses, d. h. auf die Dauer der Wahl begrenzt (§ 15 Abs. 3 Satz 1 KSchG).

III. In der Zusammenfassung führen diese Überlegungen zu folgendem Ergebnis:

1. Das Schweigen des Gesetzes kann nicht als negative Antwort dahin verstanden werden, daß im betriebsratslosen Betrieb die Mitglieder des Wahlvorstands auf den besonderen Kündigungsschutz des § 15 Abs. 3 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG verzichten müssen. Das Zustimmungserfordernis entfällt nicht deshalb, weil ein Betriebsrat fehlt und erst noch gebildet werden soll.

Etwas anderes könnte nur gelten, wenn das Betriebsverfassungsgesetz für diesen Fall keine Möglichkeit vorsehen würde, die Zustimmung zu erlangen. Das ist jedoch gerade nicht der Fall. Wenn die Zustimmung des Betriebsrats gemäß § 103 Abs. 1 BetrVG nicht zu erreichen ist, so ist durch § 103 Abs. 2 BetrVG als Programm zur Lösung dieser Rechtsfrage die Ersetzung der Zustimmung durch das Arbeitsgericht vorgesehen. Diesen Weg muß daher der Arbeitgeber vor der Kündigung eines Mitgliedes des Wahlvorstandes beim Fehlen eines Betriebsrats wählen, wenn er mit der gemäß § 103 BetrVG bis zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Wahlergebnisses stets erforderlichen Zustimmung außerordentlich kündigen will.

2. Gegenüber dieser Lösung läßt sich nicht einwenden, das Arbeitsgericht würde in unzulässiger Weise die Funktion eines Ersatzbetriebsrats einnehmen, wenn von vornherein ihm allein die Erteilung der Zustimmung gemäß § 103 BetrVG übertragen sei. Wie der Senat bereits in seinem Beschluß vom 22. August 1974 betont hat (AP Nr. 1 zu § 103 BetrVG 1972 [zu B III der Gründe] mit zustimmender Anmerkung von Hueck, auch zum Abdruck in der Amtlichen Sammlung bestimmt), muß das Arbeitsgericht im Bereich des § 103 BetrVG eine Rechtsentscheidung treffen, die praktisch den Kündigungsschutzprozeß vorwegnimmt. Es hat alle Umstände zu berücksichtigen, die die Kündigung rechtfertigen können. Das Gericht ist also verpflichtet, sowohl individualrechtliche als auch wegen des § 103 BetrVG kollektivrechtliche Gründe zu berücksichtigen. Damit hat aber gerade die Vorschrift des § 103 BetrVG zulässigerweise dem Arbeitsgericht die Möglichkeit eingeräumt, die Aufgaben, die sich einem Betriebsrat in dem Zustimmungsverfahren stellen, selbst ordnend zu vollziehen.

3. Diese am Gesetzeszweck orientierte Auslegung des § 15 Abs. 3 KSchG in Verbindung mit § 103 BetrVG führt dazu, daß die Beklagte vor Ausspruch der außerordentlichen Änderungskündigung die Zustimmung des Arbeitsgerichts hätte einholen müssen. Da die Beklagte diese Wirksamkeitsvoraussetzung nicht erfüllt hat, ist die Kündigung vom 13. März 1974, wie die Vorinstanzen zutreffend erkannt haben, wegen Gesetzesverstoßes (§ 134 BGB) nichtig. Das gilt unabhängig davon, daß hier um eine Änderungskündigung gestritten wird. Auch diese fällt als echte Kündigung unter § 15 KSchG jedenfalls dann, wenn sie sich gegen den besonders geschützten Arbeitnehmer als einzelnen richtet (vgl. BAG 5, 214 = AP Nr. 10 zu § 13 KSchG; BAG 17, 313 = AP Nr. 4 zu § 59 PersVG; Hueck, aaO, § 15 Anm. 28).

 

Unterschriften

gez.: Dr. Gröninger, Hillebrecht, Dr. Jobs, Dr. Hautmann, Fink

 

Fundstellen

Haufe-Index 662634

BAGE, 152

NJW 1977, 267

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