Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung nach Einigungsvertrag. Nachschieben von Kündigungsgründen

 

Leitsatz (redaktionell)

Zum Nachschieben im Kündigungszeitpunkt noch nicht bekannter Kündigungsgründe, wenn sich vor dem Nachschieben ein Personalrat installiert hat.

 

Normenkette

PersVG-DDR §§ 79, 72; EV Anl. I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1

 

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 08.02.1994; Aktenzeichen 5 Sa 253/93)

KreisG Leipzig-Stadt (Urteil vom 28.01.1992; Aktenzeichen 19 Ca 66/91)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Chemnitz vom 8. Februar 1994 – 5 Sa 253/93 – aufgehoben.

2. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Kreisgerichts Leipzig-Stadt vom 28. Januar 1992 – 19 Ca 66/91 – abgeändert:

Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 24. September 1991 nicht beendet worden ist.

3. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der 1938 geborene Kläger war seit 1. August 1960 als Lehrer für Deutsch, Geschichte und Staatsbürgerkunde in D. beschäftigt. Von 1972 bis 1976 war er Parteisekretär der SED an einer Oberschule in D., von 1976 bis 1979 stellvertretender Direktor, von 1979 bis 1981 Direktor und von 1982 bis 1989 wieder Parteisekretär an dieser Schule. Im Jahr 1988 wurde der Kläger mit seinem Einverständnis zum Fachberater für Staatsbürgerkunde im Kreis D. berufen. Als Fachberater hatte er einen Erfahrungsaustausch der Lehrer für Staatsbürgerkunde im Kreis D. zu organisieren, die Staatsbürgerkundelehrer im Unterricht aufzusuchen und ggf. methodische und pädagogische Anregungen in Form von Empfehlungen zu geben. Der Kläger hatte die Lehrer für Staatsbürgerkunde anzuhalten, die Ziele des Staatsbürgerkundeunterrichts zu beachten. Die Tätigkeit als Fachberater für Staatsbürgerkunde, später Gesellschaftskunde, übte der Kläger bis zu einer Abberufung zum 1. Juli 1991 neben seiner Lehrertätigkeit aus.

Mit Schreiben vom 24. September 1991 kündigte das Oberschulamt Leipzig das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31. Dezember 1991 unter Hinweis auf dessen frühere Tätigkeit als Fachberater für Staatsbürgerkunde. Beim Oberschulamt bestand zu diesem Zeitpunkt kein Bezirkspersonalrat. Vorsorglich hatte der Beklagte vor Ausspruch der Kündigung den Kreisschulpersonalrat über die Kündigungsabsicht informiert.

Der Kläger ist der Auffassung, die Kündigung sei unwirksam. Er hat vorgetragen, er habe seine Aufgabe als Fachberater nie als Aufsichtsfunktion gesehen. Er habe die Kollegen nicht kontrolliert und keine Beurteilungen für deren Personalakten gefertigt. Als Fachberater für Staatsbürgerkunde habe er den Unterricht der Kollegen nur besucht, um methodische und pädagogische Erfahrungen zu sammeln und weiterzugeben. Es sei ihm darauf angekommen, gegen jede Form der Zensur von Meinungsäußerungen aufzutreten und die Lehrer aufzufordern, die freie Meinungsbildung der Schüler zu fördern. Die Schüler hätten alle sie bewegenden Fragen und Probleme kontrovers diskutieren sollen. Ein konkretes Fehlverhalten werde ihm nicht vorgeworfen. Er sei schon frühzeitig in Konflikt mit der SED und dem Staat geraten. Sein kritisches Verhalten habe er stets bewahrt. So habe er sich z.B. in den Jahren 1983, 1988 und 1989, vor allem auf der Volksbildungs-Aktivtagung im August 1989 kritisch in der Öffentlichkeit geäußert und hierfür mitunter Sanktionen hinnehmen müssen. Er sei dafür bekannt gewesen, gegenüber der SED-Kreisleitung Rückgrat zu besitzen und kritisch an Probleme heranzugehen. Gerade wegen dieser kritischen Haltung sei er im Jahr 1988 als Fachberater für Staatsbürgerkunde berufen worden.

Der Beklagte habe außerdem unberücksichtigt gelassen, daß er nach der Wende seine Tätigkeit als Fachberater für Staatsbürger- und später Gesellschaftskunde bis zu seiner Abberufung unbeanstandet ausgeübt und seit September 1990 umfangreiche Weiterbildungsmaßnahmen absolviert habe.

Aus den weiteren von ihm ausgeübten Funktionen, die der Beklagte ohne erneute Beteiligung des inzwischen gebildeten Bezirkspersonalrats im vorliegenden Verfahren nachgeschoben habe, könne für seine persönliche Eignung nichts nachteiliges entnommen werden.

Der Kläger hat beantragt,

  1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 24. September 1991 nicht beendet worden ist;
  2. für den Fall des Obsiegens mit dem Feststellungsantrag den Beklagten zu verurteilen, ihn zu unveränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat zur Stützung seines Klageabweisungsantrags geltend gemacht, der Kläger sei persönlich nicht geeignet für eine weitere Verwendung im Schuldienst. In das Amt eines Fachberaters für Staatsbürgerkunde habe nur gelangen können, wer vorbehaltlos die Ziele der SED unterstützt und sich mit diesen identifiziert habe. Gerade das Fach Staatsbürgerkunde habe in der ehemaligen DDR eine besondere staatstragende Funktion gehabt. Den Schülern sei hier die Ideologie des Marxismus-Leninismus in dem von der Einheitspartei SED vertretenen Sinne aufgezwungen worden. Hiervon abweichende Meinungen seien nicht toleriert worden. Dies gelte in besonderem Maße für einen Fachberater für Staatsbürgerkunde, der in gehobener Position für die Inhalte verantwortlich gewesen sei, die die Staatsbürgerkundelehrer im Unterricht hätten vertreten müssen. Außerdem habe der Kläger als Parteisekretär sowie als stellvertretender Direktor und Direktor im schulischen Bereich konsequent die Ideologie der SED durchzusetzen gehabt. Der Kläger habe kontinuierlich über viele Jahre hinweg bis zur Wende aktiv immer in Positionen gewirkt, die eine besondere Bedeutung für die SED im Rahmen des von ihr installierten Kontroll- und Informationssystems gehabt hätten. Die Parteisekretäre seien das Bindeglied zwischen der Partei und der Schulleitung gewesen. Der Parteisekretär habe die Aufgabe gehabt, die Parteiversammlungen zu leiten, in denen das politische Klima an der Schule besprochen worden sei. Er habe die Pionierleiter daraufhin kontrolliert und überwacht, daß diese die vorgegebenen politischen Ziele im Rahmen ihrer Tätigkeit realisiert hätten. Er sei an der Werbung von militärischem Nachwuchs sowie der Werbung für die Teilnahme an der sozialistischen Jugendweihe beteiligt gewesen. Er habe bei der Entscheidung über Besuchsreisen in die Bundesrepublik Deutschland, bei der Abfassung von Berichten über das politische Klima an der Schule für die Kreisleitung und der Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Lehrer sowie Oppositionelle mitgewirkt. Neben dem Parteisekretär sei auch der Direktor bzw. stellvertretende Direktor gehalten gewesen, mit den Schutz- und Sicherheitsorganen der DDR sowie mit der SED-Kreisleitung und der SED-Bezirksleitung zusammenzuarbeiten, wobei sich diese Zusammenarbeit auf die Bereiche „politisch-ideologische Situation an der Schule”, „Auswahl von Schülern für die Ausbildung im Dienste der Einheiten der MfS” sowie „Öffnung und Herausgabe von Kaderakten” erstreckt habe.

Das Kreisgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Dieses Berufungsurteil hat das Bundesarbeitsgericht in einem ersten Revisionsverfahren (BAG Urteil vom 9. Juni 1993 – 8 AZR 659/92 – n.v.) aufgehoben und den Rechtsstreit zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Nach der Zurückverweisung hat das Landesarbeitsgericht durch Urteil vom 8. Februar 1994 die Berufung des Klägers erneut zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die vom Bundesarbeitsgericht zugelassene Revision des Klägers.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet. Das Arbeitsverhältnis ist durch die Kündigung vom 24. September 1991 nicht aufgelöst worden.

A. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, das Entlastungsvorbringen des Klägers mache zwar deutlich, daß sich der Kläger durchaus um Veränderungen bemüht habe. Diese Bestrebungen hätten jedoch nichts mit Systemkritik hinsichtlich des SED-Staates zu tun gehabt, der Kläger habe seine Veränderungen vielmehr auf der Grundlage des marxistisch-leninistischen Weltbildes bewirken wollen. Auch die Berufung des Klägers in die verschiedenen Funktionen spreche gegen seine Behauptung, daß er schon früh in Konflikte mit der SED und dem Staat der DDR geraten sei und dem System kritisch gegenübergestanden habe. Nicht jede Kritik an einzelnen Gegebenheiten in der ehemaligen DDR müsse zwangsläufig systemkritisch sein. Kritik könne auch geübt werden, ohne das politische System eines Staates insgesamt in Frage zu stellen. Konkrete Tatsachen, anhand derer auf eine Abkehr des Klägers von den Zielen des SED-Staates hin zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung geschlossen werden könne, lägen nicht vor.

B. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.

I. Da der Kläger als Lehrer dem öffentlichen Dienst in den Beitrittsländern angehörte (Art. 20 Abs. 1 EV), wäre die Kündigung zulässig, wenn der Kläger wegen mangelnder persönlicher Eignung nach Anl. I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 1 EV (im folgenden: Abs. 4 Ziff. 1 EV) den Anforderungen nicht entspräche. Dazu sind in der einschlägigen Rechtsprechung des Achten und Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts (Urteile vom 28. April 1994 – 8 AZR 57/93 – AP Nr. 22 zu Einigungsvertrag Anlage I Kap. XIX, auch zur Veröffentlichtung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts vorgesehen, m.w.N.; vom 26. Mai 1994 – 8 AZR 248/93 – n.v.; vom 13. Oktober 1994 – 2 AZR 201/93 – NJ 1995, 161 und vom 13. Oktober 1994 – 2 AZR 261/93 –, beide auch für die Amtliche Sammlung des Gerichts vorgesehen; vgl. dazu neuerdings auch BVerfG Beschluß vom 21. Februar 1995 – 1 BvR 1397/93 –, zur Veröffentlichung vorgesehen) zum Nachweis einer solchen mangelnden Eignung aufgrund besonderer Identifikation des Lehrers mit den grundgesetzfeindlichen Zielen der SED bzw. von Entlastungstatsachen – kurz zusammengefaßt – folgende Grundsätze entwickelt worden:

Die mangelnde persönliche Eignung im Sinne von Abs. 4 Ziff. 1 EV ist eine der Person des Arbeitnehmers anhaftende Eigenschaft, die dann indiziert ist, wenn z.B. ein in der früheren DDR tätig gewesener Lehrer sich in der Vergangenheit in besonderer Weise mit dem SED-Staat identifiziert hat. Positionen in Staat und Partei, die ein Lehrer seinerzeit innegehabt hat, können Anhaltspunkte für seine mangelnde Eignung sein. Allerdings erfordern Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf freie Arbeitsplatzwahl (Art. 12 Abs. 1 GG) und im öffentlichen Dienst ergänzend Art. 33 Abs. 2 GG eine konkrete, einzelfallbezogene Würdigung der Persönlichkeit des Arbeitnehmers, die sein Verhalten nach dem Beitritt der neuen Bundesländer unter Prüfung der Fähigkeit und inneren Bereitschaft einbezieht, seine dienstlichen Aufgaben nach den Grundsätzen der Verfassung glaubwürdig wahrzunehmen (BVerfG Beschluß vom 21. Februar 1995 – 1 BvR 1397/93 –). Die Beweislast für den Nachweis der mangelnden persönlichen Eignung obliegt dem Arbeitgeber, wobei allerdings die Darlegungslast für be- und entlastendes Vorbringen abgestuft ist: Schon angesichts der Tatsache, daß zahlreiche Personalakten nach der sog. Wende „gesäubert” wurden, würden die Anforderungen an die Darlegungslast des Arbeitgebers überspannt, wenn von ihm ohne konkretes Gegenvorbringen die detaillierte Darlegung verlangt würde, der mit der Umsetzung der grundgesetzfeindlichen SED-Ideologie beauftragte Funktionsträger habe im konkreten Fall die Funktion auch tatsächlich entsprechend diesen Zielen ausgeübt. Wie er im Einzelfall die Funktion tatsächlich ausübte, weiß der belastete Arbeitnehmer in aller Regel weitaus besser. Er hat sich deshalb zu der allgemeinen Funktionsbeschreibung konkret zu äußern. Das Maß der gebotenen Substantiierung von Entlastungsvorbringen hängt ebenfalls davon ab, wie sich die andere Seite darauf einläßt (§ 138 Abs. 2 ZPO). Es bedarf des Vortrages konkreter Entlastungstatsachen unter Benennung geeigneter Beweismittel. Der Arbeitgeber kann dann seine Ermittlungen auf die vorprozessual oder im Prozeß konkretisierten Tatsachen konzentrieren, wobei die Beweislast auch insoweit bei ihm verbleibt.

II. Nach diesen Grundsätzen ist es rechtsfehlerhaft, wenn das Landesarbeitsgericht aufgrund des von ihm festgestellten Sachverhalts eine mangelnde persönliche Eignung des Klägers i.S.v. Abs. 4 Ziff. 1 EV angenommen hat.

1. Das Landesarbeitsgericht ist in Übereinstimmung mit dem zurückverweisenden Urteil des Achten Senats (Urteil vom 9. Juni 1993 – 8 AZR 659/92 – n.v.) zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß die Tätigkeit des Klägers als Fachberater für Staatsbürgerkunde grundsätzlich geeignet ist, Zweifel an seiner persönlichen Eignung für eine weitere Verwendung im Schuldienst zu begründen. Es handelt sich dabei um eine herausgehobene Aufgabe, die auf eine besondere Identifizierung des betreffenden Lehrers mit den Zielen des SED-Staats hinweist. Diese Indizwirkung ist allerdings dadurch eingeschränkt, daß einer verhältnismäßig kurzen Tätigkeit des Klägers als Fachberater für Staatsbürgerkunde unmittelbar vor der Wende seine bis Juni 1991 fortgesetzte Tätigkeit als Fachberater für Gesellschaftskunde im Dienst des Beklagten gegenübersteht und daß der Beklagte auch die Funktion des Fachberaters für Staatsbürgerkunde nur verhältnismäßig pauschal umschrieben hat.

2. Die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zu dem Entlastungsvorbringen des Klägers sind aber, wie die Revision zu Recht rügt, nicht frei von Rechtsfehlern. Die durch das Landesarbeitsgericht vorgenommene Einzelfallabwägung beachtet nicht hinreichend die der Aufhebung des ersten Berufungsurteils zugrundeliegende rechtliche Beurteilung (§ 565 Abs. 2 ZPO) und berücksichtigt zudem nicht alle wesentlichen Umstände. Die Beurteilung des Entlastungsvorbringens des Klägers durch den Achten Senat in der ersten Revisionsentscheidung, an die das Berufungsgericht nach der Zurückverweisung gemäß § 565 Abs. 2 ZPO gebunden war und an die der erkennende Senat nunmehr ebenfalls gebunden ist, stellt als entscheidenden Gesichtspunkt für die Aufhebung des ersten Berufungsurteils heraus, dem Vorbringen des Klägers über sein kritisches Verhalten vor der Wende könne nicht entgegengehalten werden, dieser habe nur die Nischen genutzt, die auch in der DDR-Gesellschaft existiert hätten. Daraus folgt, daß vor der Wende geübte Kritik nicht nur dann als Entlastung berücksichtigt werden darf, wenn diese Kritik das politische System des SED-Staates „insgesamt in Frage” gestellt hat. Genauso grenzt aber das Berufungsgericht ab, indem es zwischen einer Kritik am System der DDR, die zur Entlastung geeignet ist, und einer systemimmanenten Kritik, die nicht entlasten soll, unterscheidet. Der Achte Senat hat in dem zurückverweisenden Urteil demgegenüber betont, ein Arbeitnehmer, der in der früheren DDR Funktionen bekleidet habe, die nunmehr Zweifel an seiner persönlichen Eignung begründeten, könne sich nicht nur durch das Vorbringen entlasten, er sei in der früheren DDR quasi als Widerstandskämpfer aufgetreten. Auch wer bereits vor der Wende kritikoffen war, kann insbesondere durch sein Verhalten nach der Wende zeigen, daß er der maßgebenden Verfassungslage genügen will.

a) Soweit sich das Landesarbeitsgericht mit dem Leserbrief des Klägers zu der Rezension von Strittmatters Buch „Der Laden” aus dem Jahr 1984 auseinandersetzt, greift seine Begründung zu kurz. Es kommt nicht darauf an, ob der Kläger mit seiner Kritik schon im Jahr 1984 „den SED-Staat bekämpft und für freiheitlich-demokratische Grundwerte eingetreten” ist. Es fehlt deshalb die erforderliche Würdigung aller wesentlichen Umstände, wenn aus dem Brief des Klägers aus dem Zusammenhang gerissen nur eine Passage zitiert wird, die erkennen läßt, daß der Kläger den Sprachschatz der früheren DDR durchaus beherrschte. Betrachtet man die vom Kläger nur mit Seitenzahlen zitierten Passagen aus dem Buch Strittmatters, die vom Kläger angegriffene Rezension und den Leserbrief im Zusammenhang, so weist der Leserbrief den Kläger im Gegensatz zu der Bewertung durch das Landesarbeitsgericht eher als mutigen, kritikoffenen Staatsbürger aus, der das „Rückgrat” hatte, das nach seiner Darstellung zu der Berufung als Fachberater geführt haben soll.

Die Rezension in der Zeitschrift „Deutschunterricht” bemängelt die „zahlreichen Extempores”, in denen der „vielfach geehrte” Schriftsteller mit „vermeintlich eigenen Irrtümern” abrechne und „die schon bekannten Auslassungen des Autors über Literaturlehrer und -wissenschaftler”. Dem widersetzt sich der Kläger mit Worten, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Strittmatter greift, wie der Kläger durch dessen Brief belegt hat, vor allem die stalinistische Sicht auf das Literaturschaffen an und zeigt Reue, daß er sich von einem stalinistisch orientierten Literaturbetrieb zeitweise hat einfangen lassen. Die „Stellen”, die der Kläger in seinem Leserbrief ebenso wie der zuständige Redakteur in seiner Antwort nur mit Seitenzahlen, allenfalls noch mit einem Stichwort zitieren, zeigen eine herbe Kritik Strittmatters an gewissen Auswüchsen des SED-Staats. Ein Zitat mag dies belegen:

„Wenn ich heute die Auslassungen mancher politisch beflissenen Literaturtheoretiker lese, muß ich an die schwarze Schwester Auguste denken … Die schwarze Schwester mit Schnürstiefeln und schwarzer Groß-Ledertasche hat nie bei einem Mann geschlafen, aber sie klärt die Dorffrauen über die Hygiene im ehelichen Geschlechtsverkehr auf. Sie hat nie ein Kind geboren, nie eins gewindelt, sondern hat, was sie bewährten Müttern an Theorie übermittelt, an einem Modellsäugling erlernt … Sie fürchtet sich vor dem Leben … die Theorie auf Beinen … (S. 336 f.)”

Wenn der Kläger in seinem Leserbrief die „Auslassung” der Rezensentin angreift, bekennt, viele der Gedanken Strittmatters seien ihm nicht fremd und sprächen für dessen genaue Kenntnis „unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit”, so verrät dies Mut. Der Kläger, der der Zeitschrift für die weitere Arbeit „Stehvermögen” wünscht, tritt offen für eine freie Meinungsbildung und Meinungsäußerung ein, kritisiert stalinistische Formen der Literaturlenkung und plädiert dafür, die zitierten Passagen aus Strittmatters Roman über Machtmißbrauch, politische Schlüssellochguckereien etc. ernst zu nehmen, weil es sich hierbei um „Lebenswahrheiten” handele. Geradezu programmatisch äußert sich der Kläger zu dem Zitat aus Strittmatters Buch: „Man sollte darüber nachdenken, besser noch, man sollte verändern!”. Bei diesem Inhalt des Leserbriefs auf ein eher ironisch vom Kläger eingestreutes Leninzitat abzustellen, wie dies das Landesarbeitsgericht tut, greift zu kurz.

b) Auch die Ausführungen des Landesarbeitsgerichts zu dem Interview mit der Redakteurin M. berücksichtigen nicht alle Umstände. Dort berichtet der Kläger über seine Erfahrungen in einem von ihm parallel zum Staatsbürgerkundeunterricht veranstalteten fakultativen Philosophiekurs (mit entsprechend größeren Freiräumen). Das Unterrichtskonzept des Klägers nimmt Abschied von altem Gedankengut, wonach früher der Lehrer vorgab, was zu denken war, während nunmehr die Erziehung der Mädchen und Jungen „zu leistungsstarken, selbstbewußten und kritikfähigen Menschen” im Vordergrund stehen sollte. Wenn als Unterrichtsthema der Begriff Freiheit (Freiheitskampf. Freiheitsdrang, Meinungs- und Redefreiheit) beispielhaft abgehandelt wird, so läßt das Interview klar erkennen, in welcher Richtung der Kläger neue „Denkweisen” in den Unterricht einfließen lassen wollte. Vor den Anforderungen der Schulgesetze des Beklagten kann ein solches Unterrichtskonzept durchaus bestehen.

c) Der nach der Zurückverweisung vorgelegte Diskussionsbeitrag des Klägers zum Pädagogenkongreß führt diese Gedankengänge weiter aus und betont „in einer Zeit der verstärkten weltanschaulichen Auseinandersetzung” wiederum die zunehmende Bedeutung des Begriffs der Freiheit (Willensfreiheit, Redefreiheit, freies Handeln). Die vom Kläger bezogenen Positionen lassen dabei schon deutlich eine Distanz zur bisherigen Schulpolitik der SED erkennen. Es wäre zuviel verlangt, vom Kläger mit dem Landesarbeitsgericht zu erwarten, er hätte sich als Fachberater des Kreises auf einem offiziellen Pädagogenkongreß offen vom SED-Staat distanzieren und zum Grundgesetz bekennen sollen. Nicht einmal die Beibehaltung der SED-Terminologie hat nach der Darstellung des Klägers bewirken können, daß der Beitrag ohne mehrseitige Änderungswünsche der Zensur gehalten werden konnte.

d) Auch die Tatsache, daß der Kläger ab September 1990 zahlreiche Seminare u.a. über Ethik und Wertevermittlung in Schule und Gesellschaft und über das politische System der BRD besucht hat, hat das Landesarbeitsgericht nach der Zurückverweisung nicht hinreichend berücksichtigt. Der Besuch solcher Fortbildungsveranstaltungen nach der Wende kann natürlich entweder auf einem Gesinnungswandel beruhen oder lediglich auf eine Anpassung hindeuten, die mit der inneren Haltung des Betreffenden nichts zu tun hat. Nach dem zurückverweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts war es jedoch gerade Aufgabe des Berufungsgerichts, einzelfallbezogen nachzuprüfen, von welcher der beiden Alternativen beim Kläger auszugehen war. Für den Kläger spricht hier, daß er sich in einem ganz außergewöhnlichen Umfang fortgebildet hat, und daß mit diesen Fortbildungsmaßnahmen in der Tätigkeit als Fachberater parallel eine Umgestaltung des alten Fachs Staatsbürgerkunde in ein modernes, nach seinem Inhalt noch zu definierendes Fach Gesellschaftskunde einherging. Betrachtet man die kritischen Äußerungen des Klägers vor der Wende, seine fachbezogenen Ausführungen während seiner Tätigkeit als Fachberater und die von ihm vorgestellten Unterrichtsmodelle, so sprechen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger gewissermaßen mit innerem Vorbehalt die Fortbildungsveranstaltungen nur zum Schein besucht haben könnte, um seinen Anpassungswillen zu dokumentieren.

e) Insgesamt betrachtet war der Kläger zwar mit seiner Tätigkeit als Fachberater für Staatsbürgerkunde längere Zeit im SED-Staat in einer Funktion tätig, die generell zu Zweifeln an seiner persönlichen Eignung für die weitere Verwendung im Schuldienst Anlaß gab. Er hat sich jedoch schon frühzeitig mit bestimmten Auswüchsen des SED-Regimes auseinandergesetzt. In einer kritischen Zeit zum Fachberater für Staatsbürgerkunde ernannt, hat er dann seine Kritik durchaus in Richtung auf eine Wende zum Besseren hin fortgesetzt, ohne daß er natürlich den Zusammenbruch des Regimes voraussehen konnte. Vom Beklagten ist er unbeanstandet so lange als Fachberater für Gesellschaftskunde weiterbeschäftigt worden, daß dadurch schon allein vom zeitlichen Umfang her die Fachberatertätigkeit vor der Wende mehr als aufgewogen wird. Unter diesen Umständen ist der Sachvortrag des Klägers nicht widerlegt, seine verstärkte Berufsfortbildung nach der Wende und sein energisches Eintreten für die sachliche Umgestaltung des von ihm vertretenen Fachbereichs habe nur einen Umdenkungsprozeß abgeschlossen, der schon zu DDR-Zeiten eingesetzt habe.

3. Soweit der Beklagte erstmals in der Berufungsinstanz die weitere Tätigkeit des Klägers als ehrenamtlicher Parteisekretär von 1972 bis 1976, als stellvertretender Direktor bzw. Direktor von 1976 bis 1981 und wieder als Parteisekretär von 1982 bis 1989 als Kündigungsbegründung herangezogen hat, rügt die Revision zu Recht, daß der beklagte Freistaat aus personalvertretungsrechtlichen Gründen gehindert ist, diese Vervollständigung des Kündigungssachverhalts nachzuschieben. Denn erst das Nachschieben würde dem bisher nicht ausreichenden Kündigungsgrund das Gewicht eines tragenden Kündigungsgrundes im Sinne fehlender persönlicher Eignung geben.

a) Bestand im Kündigungszeitpunkt keine Personalvertretung, wohl aber im Zeitpunkt des Nachschiebens der Kündigungsgründe, so stellt sich die Frage, ob das Nachschieben zur Zeit der Kündigung bereits bestehender Kündigungsgründe stets eine Beteiligung der Personalvertretung voraussetzt. Der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts verneint dies für den Fall, daß der Arbeitgeber schon im Kündigungszeitpunkt Kenntnis von den nachgeschobenen Kündigungsgründen hatte (BAG Urteile vom 20. Januar 1994 – 8 AZR 613/92 –, n.v. und vom 26. Mai 1994 – 8 AZR 248/93 –, n.v.). Dahinter steht die Überlegung, da bei Ausspruch der Kündigung keine Personalvertretung bestanden habe, sei zu allen die Kündigung aus der Sicht des Arbeitgebers rechtfertigenden Gründen im Kündigungszeitpunkt die Beteiligung einer Personalvertretung nicht erforderlich gewesen; ob der Arbeitgeber alle aus seiner Sicht bestehenden Kündigungsgründe in dem sich anschließenden Kündigungsschutzverfahren sofort geltend mache oder einzelne Gründe erst später nachschiebe, bleibe dann seiner Entscheidung vorbehalten.

b) Selbst bei Kündigungsgründen, die dem Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung bekannt waren und die er zur Grundlage seiner Kündigungsentscheidung gemacht hat, bestehen nach Auffassung des Senats Bedenken, ob dem in dieser Allgemeinheit gefolgt werden kann. Dies kann jedoch offenbleiben, da ein solcher Fall nicht vorliegt.

c) Wie der Senat in einer Parallelsache bereits entschieden hat (Urteil vom 11. Mai 1995 – 2 AZR 265/94 –) ist eine nachträgliche Anhörung des inzwischen konstituierten Personalrats zu im Zeitpunkt der Kündigung bekannten Kündigungsgründen jedenfalls dann erforderlich, wenn der Arbeitgeber die nachgeschobenen Kündigungsgründe nicht zur Grundlage seiner ursprünglichen Kündigungsentscheidung gemacht hatte und erst die nachgeschobene, ergänzende Kündigungsbegründung dem Kündigungsvorwurf das tragende Gewicht eines Kündigungsgrundes gibt. Der Senat hat ausgeführt, das Nachschieben solcher Kündigungsgründe stehe im Ergebnis dem Ausspruch einer neuen Kündigung gleich. Wolle der Arbeitgeber die Grundlage seiner ursprünglichen Kündigungsentscheidung in wesentlichen Punkten ändern, ergänzen oder austauschen, so müsse er mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der §§ 72, 79 PersVG-DDR wie bei einer erneut auszusprechenden Kündigung dem inzwischen gebildeten Personalrat ermöglichen, auf seinen Entschluß einzuwirken, solche Kündigungsgründe in den Prozeß über die Wirksamkeit der Kündigung einzuführen.

d) Erst recht gelten die Überlegungen des Senats für Kündigungsgründe, von denen der Arbeitgeber erst nach Ausspruch der Kündigung und nach Installierung einer Personalvertretung Kenntnis erlangt hat. Sachverhalte, von denen der Arbeitgeber im Zeitpunkt der Kündigung keine Kenntnis hatte, konnte er naturgemäß nicht zur Grundlage seiner Kündigungsentscheidung machen (vgl. BAG Urteil vom 20. Januar 1994 – 8 AZR 24/93 – n.v., zu B III 2 a der Gründe). Erfährt er nach Ausspruch der Kündigung von Sachverhalten, die zur Zeit der Kündigung vorlagen und nunmehr dem bisherigen Kündigungsvorwurf erst das Gewicht eines Kündigungsgrundes geben, so steht der Entschluß, diese Sachverhalte im laufenden Prozeß als Kündigungsbegründung nachzuschieben, einem neuen Kündigungsentschluß gleich. Bestand im Zeitpunkt des Nachschiebens ein Personalrat, so ist dieser mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der §§ 72, 79 PersVG-DDR wie bei einer erneut auszusprechenden Kündigung zu beteiligen (vgl. zur nachträglichen Anhörung bei später bekannt gewordenen Kündigungsgründen allgemein Senatsurteil vom 11. April 1985 – 2 AZR 239/84 – BAGE 49, 39 = AP Nr. 39 zu § 102 BetrVG 1972; KR-Etzel, 3. Aufl., § 102 BetrVG Rz 187 f.; Lorenzen/Haas/Schmitt/Etzel, BPersVG, § 79 Rz 156).

e) Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, daß es sich bei den nachgeschobenen Kündigungsgründen um Gründe handelt, die dem Beklagten erst nachträglich, also nach Installierung des Bezirkspersonalrats, bekannt geworden sind. Die vom Kläger außer seiner Fachberatertätigkeit ausgeübten Funktionen hat der Beklagte erst im Juli 1992 im Prozeß nachgeschoben, als beim Schulamt Leipzig längst ein Bezirkspersonalrat bestand. Nach dem Schreiben des Oberschulamts vom 19. September 1991 an die freiwillig über die Kündigungsabsicht informierten Kreispersonalräte, auf das das Landesarbeitsgericht Bezug genommen hat, wurden jedoch den Kreispersonalräten „ebenso wie den betroffenen Lehrkräften bei der Mitteilung der Kündigungsabsicht alle aus Sicht des Oberschulamts für die Kündigung maßgeblichen Gründe mitgeteilt; später – z.B. bei einer Anhörung – beim Oberschulamt bekannt gewordene Sachverhalte wurden den Personalvertretungen spätestens bei den Erörterungen zur Kenntnis gebracht”. Aus diesem Schreiben, dessen Inhalt mit dem früheren Schreiben vom 21. August 1991 übereinstimmt, muß im Wege des Umkehrschlusses gefolgert werden, daß Kündigungsgründe, die bei Anhörung des Klägers und der Information des Kreispersonalrats nicht vorgebracht worden sind, dem Beklagten auch erst später bekannt geworden sind. Es ist aber durch das Kreisgericht bereits im Gütetermin geklärt worden, daß als Kündigungsgrund dem Personalrat beim Staatlichen Schulamt D. allein die in der Klageerwiderung enthaltenen Vorwürfe, also nicht die Tätigkeit des Klägers als Parteisekretär, stellvertretender Direktor und Direktor mitgeteilt worden sind. Dafür, daß der Beklagte die übrigen vom Kläger ausgeübten Funktionen im Zeitpunkt der Kündigung offenbar nicht gekannt hat, spricht auch, daß er bei Ausspruch der Kündigung nicht einmal in der Lage war, die Dauer der Fachberatertätigkeit des Klägers zutreffend anzugeben. Erst durch die Schilderung zahlreicher zusätzlicher Aktivitäten des Klägers in der Berufungsinstanz hat der Beklagte die Begründung mangelnder persönlicher Eignung des Klägers dergestalt angereichert, daß sie nun erst das tragende Gewicht eines Kündigungsgrundes erhielt. Der Beklagte hat sich hier auf eine lückenlose Tätigkeit des Klägers als Parteisekretär, stellvertretender Direktor und Direktor seit 1972 berufen, die den bisherigen Kündigungsvorwurf in einem völlig anderen Licht erscheinen ließe. Das Nachschieben von solchen im Zeitpunkt der Kündigung nicht bekannten Kündigungsgründen ohne Beteiligung des inzwischen gebildeten Personalrats war unzulässig.

f) Der Senat war schließlich auch nicht nach § 565 Abs. 2 ZPO an einer Entscheidung über die personalvertretungsrechtliche Zulässigkeit des Nachschiebens von Kündigungsgründen gehindert. Zu der Frage, ob zu den nachgeschobenen Kündigungsgründen der nachträglich installierte Bezirkspersonalrat zu hören war, finden sich in dem zurückverweisenden Urteil des Achten Senats vom 9. Juni 1993 keine Ausführungen. Selbst wenn man dieses Urteil dahin auslegen könnte, würde es sich insoweit lediglich um bestätigende Ausführungen handeln, die der Aufhebung des ersten Berufungsurteils nicht zugrundelagen (§ 565 Abs. 2 ZPO).

4. Mit der Rechtskraft dieser Entscheidung hat sich der Weiterbeschäftigungsanspruch, der auf die Prozeßdauer beschränkt war, erledigt, so daß über ihn nicht mehr zu befinden war.

 

Unterschriften

Bitter, Bröhl, Fischermeier, Rupprecht, Engelmann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1093044

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