Entscheidungsstichwort (Thema)

Rahmenkollektivvertrag als Tarifvertrag i.S. des ArbGG. Auf fehlerhafte Auslegung eines Rahmenkollektivvertrags gestützte Nichtzulassungsbeschwerde

 

Leitsatz (amtlich)

Nach dem Arbeitsgesetzbuch der DDR wirksam zustande gekommene Rahmenkollektivverträge sind Tarifverträge i.S.v. § 72a ArbGG.

 

Normenkette

ArbGG § 72a Abs. 1 Nr. 2; Gesetz über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der DDR vom 21. Juni 1990 (GBl-DDR I, S. 357) § 31; Einigungsvertrag Anlage I B Kapitel VIII Sachgebiet A Abschn. III Nrn. 14-15

 

Verfahrensgang

LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 11.11.1992; Aktenzeichen 1 Sa 1/92)

KreisG Rostock-Stadt (Urteil vom 15.10.1991; Aktenzeichen 10 Ca 129/91)

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 11. November 1992 – 1 Sa 1/92 – zugelassen.

 

Tatbestand

I. Die Parteien streiten über die Frage, in welcher Höhe die Abgeltung der vom Kläger angesammelten Freizeittage nach dem Rahmenkollektivvertrag für die Beschäftigten der Flotte (RKV) zu erfolgen hat. Der Kläger begehrt die Zahlung auf der Basis eines Umtauschkurses von 1 Mark der Deutschen Demokratischen Republik zu einer Deutschen Mark. Die Beklagte hat die Abgeltung aufgrund eines Umtauschkurses von 2:1 vorgenommen.

Der Kläger war bei der Beklagten bis zum 31. Januar 1991 beschäftigt und gehörte zum seefahrenden Personal. Auf das Arbeitsverhältnis fand der RKV Anwendung.

Der Kläger war in den Zeiträumen von Oktober 1989 bis März 1990 und erneut von Mai 1990 bis Oktober 1990 ununterbrochen auf See tätig. Die Beklagte gewährte ihm hierfür in der Zeit vom 22. März 1990 bis zum 6. Mai 1990 und ab dem 28. November 1990 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen Freizeitausgleich. 94 Freizeittage sind nicht gewährt worden.

Der Kläger ist der Auffassung, gemäß § 3 Ziff. 14 RKV sei der Anspruch auf Abgeltung der Freizeittage erst mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und damit nach der Währungsumstellung fällig geworden. Nach Art. 7 § 1 Abs. 2 Ziff. 1 der Anlage I zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik sei damit eine Umstellung im Verhältnis 1:1 vorzunehmen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat das Urteil des Arbeitsgerichts auf die Berufung der Beklagten hin abgeändert und die Klage abgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit der auf grundsätzliche Bedeutung des Rechtsstreits gestützten Nichtzulassungsbeschwerde.

 

Entscheidungsgründe

II. Die form- und fristgemäß eingelegte und begründete Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger hat die fehlerhafte Auslegung eines Tarifvertrages hinreichend dargetan (§ 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG).

1. Der RKV ist als ein Tarifvertrag i.S. des § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG zu behandeln.

a) Zwar handelt es sich bei dem RKV nicht um einen Tarifvertrag i.S. des TVG, denn die nach dem Recht der früheren DDR zustande gekommenen Rahmenkollektivverträge erfüllen nicht die für das Zustandekommen von Tarifverträgen nach dem TVG bestehenden Voraussetzungen. So fehlt es insbesondere an einer freien Vereinbarung zwischen frei gebildeten und unabhängigen Tarifvertragsparteien i.S.v. § 2 TVG. Nach § 11 AGB-DDR a.F. konnten vielmehr die zentralen Organe gesellschaftlicher Organisationen und sozialistischer Genossenschaften mit den zuständigen Zentralvorständen der in der damaligen DDR bestehenden Industriegewerkschaften und Gewerkschaften für die bei ihnen beschäftigten Werktätigen die notwendigen arbeitsrechtlichen Bestimmungen in Rahmenkollektivverträgen vereinbaren. Diese unterlagen der staatlichen Kontrolle, da sie erst mit der Bestätigung und Registrierung durch das zuständige zentrale Staatsorgan rechtswirksam wurden (§ 14 Abs. 2 AGB-DDR a.F.).

Aufgrund des Wortlauts von § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG hat der Senat bisher in ständiger Rechtsprechung angenommen, daß Tarifverträge i.S. dieser Vorschrift nur solche sind, die nach Maßgabe des TVG zustande gekommen sind und dem vorgegebenen allgemeinen arbeitsrechtlichen Begriff des Tarifvertrags entsprechen (z.B. BAGE 60, 344 = AP Nr. 37 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz, m.w.N.). Der Senat konnte sich insoweit darauf stützen, daß der Gesetzgeber in § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG neben den Tarifverträgen keine anderen Regelungen aufgeführt und damit diesen gleichgestellt hat, obwohl er dies hätte tun können und in anderen Vorschriften auch getan hat (vgl. Beschluß vom 7. September 1988 – 4 AZN 436/88 – AP Nr. 36 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz).

b) Dennoch sind nach dem AGB-DDR wirksam zustande gekommenene Rahmenkollektivverträge wie Tarifverträge i.S.v. § 72a ArbGG zu behandeln. Rahmenkollektivverträge waren kollektive normschaffende Verträge (BAG Urteil vom 21. Mai 1992 – 8 AZR 436/91 – EzA § 14 AGB-DDR 1977 Nr. 2). Sie hatten, soweit dies angesichts der grundsätzlichen zwischen den Rechtssystemen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR bestehenden Unterschiede möglich war, eine Funktion, die derjenigen der nach dem TVG abgeschlossenen Tarifverträge vergleichbar war.

Dies hat der Gesetzgeber anerkannt. So ist auf der Grundlage von Anlage II, Abschnitt IV Nr. 6 zum Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in § 31 Nr. 3 des Gesetzes über die Inkraftsetzung von Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland in der Deutschen Demokratischen Republik im Zusammenhang mit der Inkraftsetzung des Tarifvertragsgesetzes bestimmt, daß nach dem AGB-DDR registrierte Rahmenkollektivverträge jeweils bis zum Abschluß von Tarifverträgen nach dem TVG weiter anwendbar sind. Diese Rahmenkollektivverträge sollen mit Inkrafttreten neuer, nach dem TVG abgeschlossener Tarifverträge insoweit außer Kraft treten, wie diese Tarifverträge dies vorsehen oder selbst entsprechende Regelungen enthalten. Diese Vorschrift ist auch für die Zeit nach der Vereinigung wortgleich in der Anlage I zum Einigungsvertrag, B Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 14 Abs. 1 enthalten. Diese Übergangsregelungen dienen der Verhinderung eines tariflosen Zustandes (vgl. MünchKomm-Oetker, Zivilrecht im Einigungsvertrag Rz 911). Ihnen liegt die Wertung zugrunde, daß für die Übergangszeit die bestehenden Rahmenkollektivverträge auch unter der Geltung des am 1. Juli 1990 in der damaligen DDR in Kraft getretenen Tarifvertragsgesetzes die Funktion der noch nicht vorhandenen Tarifverträge haben sollten. Die normative und tatsächliche Bedeutung der fortgeltenden Rahmenkollektivverträge steht auch nicht hinter derjenigen von Tarifverträgen zurück, die nach dem TVG zustande gekommen sind.

Dieser Auslegung steht die angeführte Senatsrechtsprechung zum Begriff des Tarifvertrags i.S. des § 72a ArbGG nicht entgegen. Der Gesetzgeber konnte bei der Einfügung von § 72a in das Arbeitsgerichtsgesetz im Jahr 1979 eine Vereinigung der Bundesrepublik Deutschland mit der damaligen DDR nicht absehen und konnte nicht damit rechnen, daß sich jemals die Frage nach der Subsumtion von Rahmenkollektivverträgen nach dem AGB-DDR unter diese Vorschrift stellen würde. Daher kann dem Umstand, daß in § 72a nur Tarifverträge genannt sind, für eine Anwendung der Vorschrift auf Rahmenkollektivverträge keine entscheidende Bedeutung zugemessen werden. Insoweit fällt auch nicht ins Gewicht, daß in der Anlage I zum Einigungsvertrag, B Kapitel VIII Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 15 insoweit zur Inkraftsetzung des Arbeitsgerichtsgesetzes im Beitrittsgebiet keine Maßgabe enthalten ist. Es ist gerichtsbekannt, daß sowohl der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion nebst den zu seiner Umsetzung ergangenen Gesetzen der DDR als auch der Einigungsvertrag unter höchstem Zeitdruck entstanden sind, so daß Einzelregelungen zu allen mit der Übertragung von Bundesrecht auf das Gebiet der ehemaligen DDR verbundenen Problemen nicht möglich waren. Daher kann daraus, daß in § 72a ArbGG neben den Tarifverträgen nicht auch die nach dem AGB-DDR zustande gekommenen Rahmenkollektivverträge genannt sind, nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber habe Rahmenkollektivverträge von der Anwendung dieser Vorschrift ausschließen wollen.

2. Der Geltungsbereich des RKV erstreckt sich auch über den Bezirk des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern hinaus (§ 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG).

3. Der Kläger hat auch die fehlerhafte Auslegung des RKV hinreichend dargetan (§ 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG). Unter “Auslegung eines Tarifvertrages” i.S. von § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG ist die abstrakte Interpretation tariflicher Rechtsbegriffe zu verstehen. Insoweit muß der Beschwerdeführer im einzelnen darlegen, welche fallübergreifende, abstrakte Interpretation tariflicher Rechtsbegriffe das Landesarbeitsgericht vorgenommen hat, und daß diese fehlerhaft oder bei der Subsumtion wieder aufgegeben worden ist (BAGE 32, 203, 208; 228, 232 = AP Nr. 1 und 2 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz). Diesen Erfordernissen genügt die Nichtzulassungsbeschwerde. Der Kläger hat ausreichend dargelegt, daß das Landesarbeitsgericht § 3 Ziff. 3 und 14 RKV generell dahingehend ausgelegt habe, daß Ansprüche auf Abgeltung von Freizeit jeweils bereits nach Ablauf eines Jahres nach dem Einlaufen in einen DDR-Hafen fällig sind, während nach Auffassung des Klägers die Fälligkeit erst mit dem Ende des Arbeitsverhältnisses eintritt.

4. Die Rechtssache hat auch grundsätzliche Bedeutung. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die grundsätzliche Bedeutung immer dann zu bejahen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt und diese Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils der Allgemeinheit berührt (BAGE 32, 203, 210 = AP Nr. 1 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; BAG Beschluß vom 18. August 1987 – 1 AZN 260/87 – AP Nr. 33 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Entscheidung hängt davon ab, ob § 3 RKV dahin auszulegen ist, daß der tarifliche Abgeltungsanspruch erst mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses fällig wird. Die Klärung dieser Rechtsfrage berührt auch die Interessen eines größeren Teils der Allgemeinheit. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, daß vor den Instanzgerichten eine Reihe von gleichgelagerten Prozessen anhängig seien. In einem vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg anhängig gewesenen Verfahren ist mit Urteil vom 24. November 1992 – 6 Sa 52/92 – die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen worden. Da den auszulegenden Tarifnormen eine erhebliche Anzahl von Arbeitsverhältnissen unterlegen haben, kann davon ausgegangen werden, daß die Entscheidung über die Revision für zahlreiche vergleichbare Sachverhalte rechtliche Bedeutung haben wird.

 

Unterschriften

Schaub, Schneider, Dr. Wißmann, Müller-Tessmann, Hauk

 

Fundstellen

Haufe-Index 845824

BAGE, 324

BB 1993, 1082

NZA 1994, 90

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