Leitsatz

Für das Entstehen der Verfahrensgebühr nach Nr. 4124, 4125 VV reicht auch im Falle einer späteren Rücknahme der Berufung der Staatsanwaltschaft durch die Staatsanwaltschaft eine vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist entfaltete Tätigkeit des Verteidigers.

LG Dortmund, Beschl. v. 25.11.2015 – 31 Qs 83/15

1 Sachverhalt

Mit Urteil des AG wurde der Beschwerdeführer freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft, die in der Hauptverhandlung einen Freispruch beantragt hatte, legte mit Schriftsatz vom 16.6.2015 Berufung gegen dieses Urteil ein. Dies wurde dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 16.6.2015 durch das AG mitgeteilt. Die Staatsanwaltschaft nahm die Berufung mit Verfügung vom 22.6.2015 wieder zurück. Daraufhin beantragte der Beschwerdeführer die Festsetzung einer Verfahrensgebühr für die Berufung gem. Nr. 4124 VV i.H.v. 220,00 EUR, einer Auslagenpauschale gem. Nr. 7002 VV i.H.v. 20,00 EUR nebst Umsatzsteuer gem. Nr. 7008 VV, insgesamt von 285,60 EUR. Der Bezirksrevisor führte aus, dass eine Verfahrensgebühr gem. Nr. 4124 VV nicht entstanden sei, da die Staatsanwaltschaft ihre Berufung vor deren Begründung zurückgenommen habe. Er regte deshalb an, den Antrag als unbegründet zurückzuweisen.

Das AG hat den Kostenfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Dagegen legte der Beschwerdeführer sofortige Beschwerde ein, der das AG nicht abgeholfen hat.

Die Beschwerde hatte Erfolg.

2 Aus den Gründen

Die Frage der Notwendigkeit der Tätigkeit eines Verteidigers in der Berufungsinstanz in den Fällen, in denen die Staatsanwaltschaft die eingelegte Berufung vor einer Begründung zurücknimmt, und der Entstehung einer Verfahrensgebühr bei dieser Konstellation ist in der Rspr. umstritten (vgl. Meyer/Goßner, StPO, 58. Aufl. 2015, § 464a Rn 10).

Eine Auffassung verneint das Entstehen einer Gebühr bei einer Berufungsrücknahme vor Begründungseingang mit den Argumenten, dass vor einer Begründung der Berufung durch die Staatsanwaltschaft alle Erörterungen ohne objektiven Wert seien, solange Umfang und Zielrichtung der Berufung nicht bekannt seien, und zudem die Konstellation mit derjenigen im Revisionsverfahren, in welchem nach der Rechtslage vor Begründung der Revision kein Gebührenanspruch des Rechtsanwaltes bestehe, deswegen vergleichbar sei, weil nach Nr. 146 Abs. 1 der Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) die Staatsanwaltschaft jedes von ihr eingelegte Rechtsmittel begründen müsse. Ein Verteidiger könne deshalb davon ausgehen, dass – wenn keine Berufungsrücknahme erfolge – die Berufung der Staatsanwaltschaft innerhalb der Frist des § 117 StPO begründet würde. Für das Anfallen einer Verfahrensgebühr für Berufung und Revision sei daher in der vorliegenden Konstellation keine unterschiedliche Beurteilung geboten (OLG Köln, Beschl. v. 3.7.2015 – 2 Ws 400/15 [= AGS 2015, 511]; KG Beschl. v. 19.5.2011 – 1 WS 168/10; LG Bochum JurBüro 2007, 38; LG Koblenz JurBüro 2009, 198; LG Köln StraFo 2007, 305; OLG Bamberg, JurBüro 1988, 64).

Nach a.A. reicht auch im Falle einer späteren Rücknahme der Berufung durch die Staatsanwaltschaft für das Entstehen der Gebühr nach Nr. 4124, 4125 VV eine vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist entfaltete Tätigkeit des Verteidigers (LG München I, Beschl. v. 29.8.2014 – 22 Qs 55/14; Burhoff, RVG, 3. Aufl. 2012, Nr. 4124 VV Rn 24 ff.; Burhoff, in: Gerold/Schmitt, RVG, 22. Aufl. 2015, Einleitung zu Nr. 4124, 4125 VV Rn 7 und Nr. 4124, 4125 VV Rn 6; Uher, in: Bischof/Jungbauer/Bräuer/Curkovic/Matthias/Uher, RVG, 6. Aufl. 2014, Nr. 4128–4135 VV Rn 93; Schneider, in: Schneider/Wolf, AnwK, RVG, 7. Aufl. 2014, VV 4124–4125 Rn 7; Hartung, in: Hartung/Schons/Enders, RVG, 2. Aufl. 2013, Nr. 4124–4129 VV Rn 11; Hartmann, a.a.O., Nr. 4124–4129 VV Rn 7; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 464a Rn 10 für den Regelfall; Gieg, in: Karlsruher Kommentar StPO, 7. Aufl. 2013, § 464a Rn 10).

Der zuletzt genannten Ansicht schließt sich die Kammer an.

Es ist zur Überzeugung der Kammer mit den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht vereinbar, das Informations- und Beratungsbedürfnis eines Angeklagten nach Eingang eines Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft stets als "überflüssig" anzusehen, solange dessen Zielrichtung und Umfang nicht bekannt sind (so auch LG München I a.a.O.). Im vorliegenden Fall wurde der Verteidiger durch das AG von der (noch nicht begründeten) Berufung der Staatsanwaltschaft informiert. Auch in diesem Verfahrensstadium kommen seitens des Angeklagten und seitens des Verteidigers durchaus zweckgerichtete Maßnahmen in Betracht, welche die Rechtslage klären oder die weitere Verteidigung vorbereiten. Dies gilt insbesondere dann, wenn, wie hier, die Zielrichtung des staatsanwaltschaftlichen Rechtsmittelangriffs nach der Sachlage und aus der Sicht der Verteidigung nicht zweifelsfrei war, da die Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung vor dem AG einen Freispruch beantragt hatte.

Eine andere Entscheidung ist auch schwerlich mit dem Grundsatz der Chancengleichheit im Strafverfahren zu vereinbaren. Denn wenn die Staatsanwaltsch...

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