§§ 15a Abs. 2, 60 Abs. 1 RVG; Nrn. 2302 Nr. 1, 3102; Vorbem 3 Abs. 4 VV RVG

Leitsatz

  1. Hat der Anwalt in sozialrechtlichen Angelegenheiten zunächst mehrere Geschäftsgebühren in getrennten Widerspruchsverfahren verdient und kommt es dann zu einem einzigen gerichtlichen Verfahren, sind nach der bis zum 31.12.2021 gelenden Rechtslage beide zuvor verdiente Geschäftsgebühren hälftig auf die nachfolgende Verfahrensgebühr anzurechnen.
  2. Die zum 1.1.2021 eingefügte Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG ist in Altfällen nicht anwendbar.

SG Marburg, Beschl. v. 1.11.2021 – S 10 SF 22/19 E

I. Sachverhalt

Der Anwalt war im Jahr 2017 zunächst in zwei getrennten sozialrechtlichen Widerspruchsverfahren tätig gewesen und hatte dort jeweils eine Wahlanwalts-Geschäftsgebühr nach Nr. 2302 Nr. 1 VV abgerechnet, und zwar i.H.v. 345,00 EUR und i.H.v. 200,00 EUR. Es kam hiernach im Jahr 2018 zu einem gemeinsamen Verfahren vor dem SG über beide angefochtenen Bescheide. Dort wurde der Anwalt im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnet. Der Klage wurde stattgegeben, sodass die Beklagte auch die beiden vorangegangenen Geschäftsgebühren für die Widerspruchsverfahren erstatten musste und auch erstattet hat. Im nachfolgenden Kostenfestsetzungsverfahren berechnete der Anwalt sodann eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV i.H.v. 360,00 EUR (20% über der Mittelgebühr). Darauf hat er dann die vorangegangenen Geschäftsgebühren hälftig angerechnet, gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV a. F. jedoch nur bis zur Höhe von 175,00 EUR.

 
 
I. Erstes Widerspruchsverfahren    
1. Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV   345,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 365,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   69,35 EUR
  Gesamt   434,35 EUR
II. Zweites Widerspruchsverfahren    
1. Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV   200,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 220,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   41,80 EUR
  Gesamt   261,80 EUR
III. Verfahren vor dem Sozialgericht    
1. Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV   360,00 EUR
2. gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV anzurechnen – 172,50 EUR  
3. gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV anzurechnen – 100,00 EUR  
  gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV nicht mehr als   – 175,00 EUR
4. Terminsgebühr, Nr. 3106 VV   280,00 EUR
5. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 487,50 EUR  
6. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   92,63 EUR
  Gesamt   580,13 EUR

Das SG hat ohne Begrenzung beide Geschäftsgebühren hälftig angerechnet und die Vergütung des Anwalts wie folgt festgesetzt:

 
 
I. Erstes Widerspruchsverfahren    
1. Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV   345,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 365,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   69,35 EUR
  Gesamt   434,35 EUR
II. Zweites Widerspruchsverfahren    
1. Geschäftsgebühr, Nr. 2302 Nr. 1 VV   200,00 EUR
2. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 220,00 EUR  
3. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   41,80 EUR
  Gesamt   261,80 EUR
III. Verfahren vor dem Sozialgericht    
1. Verfahrensgebühr, Nr. 3102 VV   360,00 EUR
2. gem. Vorbem. 3 Abs. 4 2 VV anzurechnen   – 172,50 EUR
3. gem. Vorbem. 3 Abs. 4 2 VV anzurechnen   – 100,00 EUR
4. Terminsgebühr, Nr. 3106 VV   280,00 EUR
5. Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV   20,00 EUR
  Zwischensumme 387,50 EUR  
6. 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV   73,63 EUR
  Gesamt   461,13 EUR

II. Ungekürzte hälftige Anrechnung beider Geschäftsgebühren

Das SG folgt der Rspr. des BGH (AGS 2017, 170 = NJW 2017, 1821 = RVGreport 2017, 220), wonach in Zivilsachen mehrere Geschäftsgebühren auf eine einheitliche Verfahrensgebühr jeweils hälftig ungekürzt angerechnet werden. Dass dadurch die Verfahrensgebühr ggfs.vollständig aufgezehrt werden könne, sei hinzunehmen. Es könne lediglich nicht ein höherer Betrag angerechnet werden als ein Betrag in Höhe der Verfahrensgebühr. Diese Rspr. hat das SG auf den zugrundeliegenden Fall übertragen und ist auch bei den sozialrechtlichen Gebühren von ausgegangen, dass jede vorangegangene Geschäftsgebühr hälftig angerechnet werde.

III. Begrenzung nach § 15a Abs. 2 RVG greift in Altfällen nicht

Das SG ist auch auf die zum 1.1.2021 neu eingeführte Vorschrift des § 15a Abs. 2 RVG eingegangen und hat darauf hingewiesen, dass diese Vorschrift in Altfällen gem. § 60 Abs. 1 RVG nicht anwendbar sei.

IV. Bedeutung für die Praxis

1. Ungekürzte Anrechnung war umstritten

Das SG hat sich leider nicht mit der Frage auseinandergesetzt, dass die Rspr. des BGH höchst umstritten war. Gegenteilig entschieden hatte das OLG Koblenz (AGS 2009, 167). Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit war anders verfahren (OVG NRW AGS 2017, 497). Danach war bereits nach altem Recht eine Kürzung vorzunehmen. In analoger Anwendung des § 15 Abs. 3 RVG durfte nicht mehr angerechnet werden als eine Gebühr nach dem höchsten anzurechnenden Satz aus dem Gesamtwert. Auf Rahmengebühren übertragen bedeutete dies, dass nicht mehr angerechnet werden durfte als die Höchstgrenze der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 2 VV i.H.v. (damals) 175,00 EUR.

2. Rechtslage durch KostRÄG 2021 geklärt

Zwischenzeitlich ist der Fall geklärt. Durch den neuen § 15a Abs. 2 RVG (eingeführt ...

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