Eine große Rolle bei der Beurteilung des "besonderen Umfangs" spielt der Umfang der Akten.[33] Das OLG Stuttgart sieht den Aktenumfang als das maßgebliche Kriterium an, weil der Umfang der Akte und der notwendige Einarbeitungsaufwand als taugliche Abgrenzungskriterien quantifizierbar und damit weitgehend objektivierbar seien. Muss sich der Verteidiger in insgesamt 70 Stehordner Akten mit ca. 26.500 Seiten einarbeiten, ist das Verfahren besonders umfangreich.[34] Entsprechendes gilt für ein Verfahren mit rund 300 Stehordnern Akten.[35] Dies ist auch bei einer erstinstanzlichen Strafkammersache der Fall, wenn die Hauptakten rund 2.000 Seiten, die zwei Mitangeklagte betreffenden Hauptakten sowie Beiakten und Sonderbände weitere rund 15.000 Seiten und die Verschriftungen der Telekommunikationsüberwachung rund 34.000 Seiten umfassen.[36] Ähnlich hat das KG für die Einarbeitung in 70 Stehordner Akten mit ca. 26.500 Seiten entschieden.[37]

Anders sieht das offenbar das OLG Frankfurt.[38] Das hat in einem Verfahren mit einem Aktenumfang von mehr als 24.000 Seiten die Gewährung einer Pauschgebühr unter Hinweis darauf abgelehnt, dass dem Beschuldigten ein zweiter Pflichtverteidiger bestellt worden war. Das OLG Koblenz hat in einem Auslieferungsverfahren einen Aktenumfang von ca. 550 Seiten als überdurchschnittlich angesehen.[39] Zur Pauschgebühr in einem Verfahren mit einer rund 50.000 Blatt umfassenden Akte, in die sich der Rechtsanwalt in kurzer Zeit einarbeiten musste, hat das OLG Stuttgart Stellung genommen[40] und das OLG Nürnberg zu einer Pauschgebühr u.a. wegen außerordentlich großen Aktenumfangs (Umfang der Ermittlungsakten [Hauptakte] bis zur Anklageerhebung 1.733 Blätter, zum Beginn der Hauptverhandlung knapp 3.500 Blätter).[41] Das OLG München hat in einem Verfahren mit einem außerordentlich umfangreichen Aktenumfang (NSU-Verfahren; 580 Aktenbände bis zu Anklageerhebung) eine Pauschgebühr bewilligt.[42] Das OLG Hamm hat in einem Wirtschaftsstrafverfahren mit einem geständigen Angeklagten, dem 700 Taten zur Last gelegt wurden, eine Pauschgebühr gewährt.[43]

Das OLG Düsseldorf ist früher davon ausgegangen, dass angesichts der Höhe des Betragsrahmens der Grundgebühr Nr. 4100 VV vom (Pflicht-)Verteidiger nur das Studium einer Akte von in der Regel nicht mehr als 500 Blatt erwartet werden kann (sog. 500-Blatt-Rspr.),[44] was das OLG Stuttgart als nicht sachgerecht angesehen hat.[45] Das OLG Stuttgart[46] meinte zu der Rspr. des OLG Düsseldorf,[47] dass eine gleichsam mathematische Berechnung des Aufwands des Pflichtverteidigers anhand eines sich aus einem aus der Anzahl der Blatt Ermittlungsakten ergebenden Faktors allgemein weder sachgerecht noch im Regelfall für die Findung eines an sämtlichen Gesichtspunkten und am Gesamtgepräge eines konkreten Falles orientierten billigen und zumutbaren Ausgleichs für die entfaltete anwaltliche Tätigkeit hinreichend geeignet erscheint. Eine nähere Begründung für diese Ablehnung gibt das OLG Stuttgart aber nicht. Es hat dann für die Einarbeitung in rund 50.000 Blatt Akten nur einen Betrag i.H.d. 10fachen der Grundgebühr Nr. 4100 VV gewährt.[48] Inzwischen hat das OLG Düsseldorf seine Rspr. aufgegeben. Die Pauschgebühr sei vielmehr durch Bewertung der konkreten Vorbereitungstätigkeit des Pflichtverteidigers – insbesondere durch die erstmalige Einarbeitung in den Rechtsfall – zu bemessen.[49]

[33] S. z.B. OLG Hamm, Beschl. v. 5.5.2022 – 5 RVGs 16/22 – zum "erhöhten" Aktenumfang in einem Wirtschaftsstrafverfahren; OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.8.2022 – 5-2 StE 7/20, AGS 2022, 404, in diesem Heft.
[34] KG, Beschl. v. 2.7.2015 – 1 ARs 28/14.
[35] OLG Stuttgart, Beschl. v. 9.8.2022 – 5-2 StE 7/20, AGS 2022, 404, in diesem Heft.
[36] OLG Nürnberg Rpfleger 2015, 355 = RVGreport 2015, 181 = StRR 2015, 157 = AGS 2015, 171.
[37] KG, Beschl. v. 2.7.2015 – 1 ARs 28/14.
[39] OLG Koblenz, Beschl. v. 29.6.2016 – 1 AR 99/15, RVGreport 2017, 413.
[41] OLG Nürnberg RVGreport 2018, 140 = StRR Sonderausgabe 12/2018, 18.
[42] OLG München RVGreport 2019, 336 = StRR 8/2019, 31 für einen Nebenklägervertreter.
[43] OLG Hamm, Beschl. v. 27.10.2020 – 5 RVGs 63/20.
[44] OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 99 = StRR 2015, 359 = JurBüro 2015, 637 = Rpfleger 2015, 668; RVGreport 2016, 138; RVGreport 2016, 178 = StRR 2/2016, 19.
[46] OLG Stuttgart, a.a.O.
[47] OLG Düsseldorf RVGreport 2016, 99 = StRR 2015, 359 = JurBüro 2015, 637 = Rpfleger 2015, 668; RVGreport 2016, 138; RVGreport 2016, 178 = StRR 2/2016, 19.
[48] OLG Stuttgart, a.a.O.
[49] OLG Düsseldorf RVGreport 2018, 213 = StRR 5/2018, 4 (Ls.).

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