Orientierungssatz

Die Corona-Pandemie rechtfertigt regelmäßig keine Beschränkung der Personsnzahl auf einer Eigentümerversammlung auf einen Wert unterhalb der teilnahmeberechtigten Eigentümer in-cl. Verwalter. Spricht die Einladung zu einer Versammlung ohne ausreichende Rechtfertigung eine solche Beschränkung aus, so sind die auf der Versammlung getroffenen Beschlüsse wegen Eingriffs in den Kernbereich des Wohnungseigentums nichtig. Vorrangig ist ein Raum zu organisieren, in dem die Vorgaben der landesrechtlichen Corona-Schutzverordnungen eingehalten werden können.

 

Normenkette

WEG § 23 Abs. 4

 

Nachgehend

LG Frankfurt am Main (Urteil vom 17.12.2020; Aktenzeichen 2-13 S 108/20)

 

Tenor

Im Wege der einstweiligen Verfügung wird die Vollziehung des in der Eigentümerversammlung vom 22.07.2020 zu Tagesordnungspunkt 9 gefassten Beschlusses bis zum Abschluss der 1. Instanz des Beschlussanfechtungsverfahrens der Parteien vor dem Amtsgericht Kassel zum Az. 800 C 2510/20 einstweilen ausgesetzt.

Die Antragsgegner haben die Kosten des einstweiligen Verfügungsverfahrens zu tragen.

 

Tatbestand

Die Antragstellerin begehrt die Aussetzung der Vollziehung eines von ihr in einem gesonderten Verfahren angefochtenen Beschlusses der Eigentümerversammlung der Wohnungseigentumsgemeinschaft A.

Die Parteien bilden die vorgenannte Gemeinschaft. Sie umfasst 13 Eigentumseinheiten, die im Eigentum von 11 Personen stehen. Mit Schreiben vom 06.07.2020 lud die Hausverwaltung zur Eigentümerversammlung auf den 22.07.2020. Im Einladungsschreiben (auf BI. 5 f. d.A. wird Bezug genommen) formulierte die Verwaltung wie folgt:

„Aufgrund der Größe der Sitzungsräume muss die Anzahl der anwesenden Eigentümer bei dieser Versammlung beschränkt werden (10 Personen inkl. Verwalter). Erteilen Sie deshalb möglichst dem Verwaltungsbeirat oder der Verwaltung die Vollmacht für die Teilnahme an der Versammlung. […] Der Verwalter behält sich vor, die Versammlung nicht durchzuführen, sofern die Höchstzahl der Anwesenden überschritten wird und keine einvernehmliche Regelung am Versammlungstag dazu getroffen werden kann.”

In der Versammlung erfolgte zum Tagesordnungspunkt 9 eine Beschlussfassung über den Anstrich der Gebäudefassade inklusive Algenschutz. Diese Beschlussfassungen hat die Antragstellerin im parallelen Hauptsacheverfahren 800 C 2510/20 angefochten, wobei eine Entscheidung noch nicht getroffen ist. Die Hausverwaltung kündigte an, ab September 2020 den Beschluss umsetzen zu lassen. Zwischen den Parteien ist streitig, ob die konkret beschlossene Maßnahme unter den Gesichtspunkten des Gesundheitsschutzes und des Umweltschutzes tauglich ist.

Die Antragstellerin beantragt,

im Wege der einstweiligen Verfügung die Vollziehung des in der Eigentümerversammlung vom 22.07.2020 zu Tagesordnungspunkt 9 gefassten Beschlusses einstweilen bis zum Abschluss des Beschlussanfechtungsverfahrens der Parteien vor dem Amtsgericht Kassel zum Az. 800 C 2510/20 bis längstens zum Ablauf etwaige Rechtsbehelfsfristen bezüglich einer Instanz abschließenden Entscheidung auszusetzen.

Die Antragsgegner beantragen,

den Antrag auf Erlass einer einzelnen Verfügung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf den Inhalt der gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Das Gericht hat die Verfahrensakte AG Kassel 800 C 2510/20 beigezogen.

 

Entscheidungsgründe

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung hat Erfolg.

Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Aufschub der Vollziehung der von ihr im Verfahren 800 C 2510/20 angefochtenen Beschlussfassung der Eigentümerversammlung der Wohnungseigentümergemeinschaft A vom 22.07.2020.

Zwar überwiegt trotz des eingeleiteten Beschlussanfechtungsverfahrens regelmäßig das Vollziehungsinteresse bezüglich des angefochtenen Beschlusses das Aussetzungsinteresse des jeweiligen Anfechtungsklägers. Im vorliegenden Fall kommt es jedoch darauf nicht an, weil der angegriffene Beschluss nicht lediglich anfechtbar, sondern nichtig im Sinne von § 23 Abs. 4 S. 1 WEG ist.

Die Nichtigkeit eines Beschlusses einer Wohnungseigentümergemeinschaft ist in einem gerichtlichen Verfahren jederzeit von Amts wegen zu berücksichtigen auch dann, wenn sich eine Partei nicht explizit darauf beruft, da die Nichtigkeit für und gegen alle Beteiligten auch ohne ausdrückliche Geltendmachung wirkt (BGH, Urteil v. 22.07.2011, – V ZR 245/09, zit. n. juris = ZMR 2011, 981; Jennißen/Schultzky, § 23 WEG Rdnr. 170; Bärmann/Merle, § 23 WEG Rdnr. 165).

Die Nichtigkeit eines Beschlusses liegt dann vor, wenn der Beschluss seinem Inhalt nach gegen zwingende Vorschriften oder die guten Sitten verstößt, zu unbestimmt ist, es an der Beschlusskompetenz der Wohnungseigentümer fehlt, ein Verstoß gegen Grundsätze des Wohnungseigentumsrechts oder in den Kernbereich des Wohnungseigentums eingegriffen wird (allgemeine Meinung, z.B. Jennißen/Schultzky, § 23 WEG Rndr. 151). Letzteres ist hier in Anwendung des im einstweiligen Verfügungsverfahren gebotenen summarischen Prüfungsmaßstabes der Fall...

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