Rz. 77

Gesetzlich war lange Zeit ein Rechtsbehelf gegen eine unangemessen lange Verfahrensdauer[181] nicht geregelt. In der Praxis wurde daher auf die sog. Untätigkeitsbeschwerde[182] zurückgegriffen. Sie wurde von der herrschenden Meinung als statthafter außerordentlicher Rechtsbehelf angesehen, wenn eine über das normale Maß hinausgehende unzumutbare Verfahrensverzögerung vorlag, die auf einen Rechtsverlust für den Betroffenen oder eine Verfahrensverweigerung hinauslief.[183] Denn aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt der Anspruch, dass im Interesse der Rechtssicherheit ein streitiges Rechtsverhältnis in angemessener Zeit einer Klärung zugeführt wird.[184] Dieser Justizgewährungsanspruch erlangt gerade in Kindschaftssachen besondere Bedeutung,[185] weil mit einer zunehmenden Verfahrensdauer eine Entfremdung oder eine Kontinuität zum Nachteil des anderen Elternteils zunehmen können, so dass nicht mehr der Richter, sondern der Zeitablauf den Streitfall entscheidet. Hinzu kommt die besondere, teilweise existenzielle persönliche Betroffenheit der Beteiligten. Ein fest umrissener Zeitrahmen, ab dessen Überschreitung diese Voraussetzungen erfüllt sind, besteht nicht. Maßgeblich sind vielmehr die jeweiligen Einzelfallumstände.[186] Allerdings wird der Beschleunigungsgrundsatz in den von § 155 FamFG erfassten Kindschaftssachen konkretisiert und verschärft.[187]

 

Rz. 78

Der EuGHMR hat seit seiner Grundsatzentscheidung vom 8.6.2006[188] in mehreren Urteilen[189] das Fehlen eines wirksamen Rechtsbehelfs gegen eine überlange Verfahrensdauer in Deutschland ­beanstandet. Mit Piloturteil vom 2.9.2010 befand der Gerichtshof einstimmig, dass Deutschland unverzüglich, spätestens aber innerhalb eines Jahres nach Rechtskraft dieses Piloturteils, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen überlange Gerichtsverfahren einführen muss.[190] Auch die Ausstrahlungswirkung der Art. 6 Abs. 1, 13 EMRK erlangt hier Bedeutung. Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen durch ein Gericht in einem Verfahren innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.[191] Als diesen Vorgaben nicht mehr gerecht werdend angesehen hat der EuGHMR etwa eine Verfahrensdauer von mehr als drei Jahren nach Stellung eines Eilantrages zur Regelung des Umgangsrechts,[192] von vier Jahren und 10 Monaten für die erste Instanz eines Umgangshauptsacheverfahren[193] bzw. eine Verfahrensdauer von rund fünf Jahren zwischen dem ersten Antrag auf Herausgabe eines in einer Pflegefamilie lebenden Kindes und der Entscheidung des BVerfG.[194] Demgegenüber hat der EuGHMR eine Verfahrensdauer von vier Jahren und drei Monaten in einem Sorgerechtsverfahren unter Berücksichtigung von drei zu durchlaufenden Instanzen, der Komplexität des Sachverhaltes sowie des Verhaltens der Beschwerdeführerin selbst als angemessen bewertet.[195]

 

Rz. 79

Nach langen, schwierigen politischen Verhandlungen ist am 3.12.2011 das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 in Kraft getreten.[196] Durch dieses Gesetz wurden u.a. dem GVG die §§ 198 ff. GVG angefügt. Dem betroffenen Beteiligten wird bei unangemessener Dauer des Gerichtsverfahrens eine – anders als beim konkurrierenden Anspruch nach § 839 BGB i.V.m. § 34 GG[197] – verschuldensunabhängige[198] "angemessene Entschädigung" gewährt, die im Regelfall für Nichtvermögensnachteile 1.200 EUR im Jahr beträgt (§ 198 Abs. 1 und 2 GVG), wenn er zuvor eine sog. "Verzögerungsrüge"[199] erhoben hat (§ 198 Abs. 3 GVG).[200] Die Entschädigungsklage kann frühestens sechs Monate nach Erhebung der Verzögerungsrüge und muss spätestens sechs Monate nach Verfahrenserledigung erhoben werden, § 198 Abs. 5 GVG. Sachlich und örtlich zuständig ist für die Klage bei Verfahren vor den Gerichten der Bundesländer das OLG, in dessen Bezirk die Regierung des beklagten Landes ihren Sitz hat, bei Verfahren vor den Bundesgerichten der BGH (§§ 200 f. GVG); bei Verfahren vor dem BVerfG dessen Beschwerdekammer.[201] Die Senate beim OLG müssen in voller Besetzung entscheiden – keine Übertragung auf den Einzelrichter (siehe dazu Rdn 7) –; gegen ihre Entscheidung findet die Zulassungsrevision, bei Nichtzulassung die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH statt (§ 201 Abs. 2 GVG i.V.m. §§ 543, 544 ZPO). Steht die unangemessene Dauer eines Verfahrens vor dem BVerfG in Rede, so entscheidet dieses nach bei ihm zu erhebender Verzögerungsrüge über die Entschädigung (§§ 97a97e BVerfGG).[202]

 

Rz. 80

Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Einzelfallumständen, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 S. 2 GVG) und der Notwendigkeit von Ermittlungen.[203] Letzteres zeigt, dass es entscheidend darauf ankommen wird, dass die Verzögerung in die Verantwortungssphäre des Gerichts fällt.[204] Denn auf Umständ...

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