Rz. 286

Das Vorliegen eines HWS-Schleudertraumas zu bestreiten, macht nur dann Sinn, wenn die Verletzungswahrscheinlichkeit aufgrund biomechanischer Überlegungen von vornherein nur sehr gering erscheint. Dann müsste ein unfallanalytisches, besser sogar interdisziplinäres, also auch medizinisches Gutachten beigezogen werden, was jedoch meist finanziell sehr aufwendig ist. Außerdem tobt ein regelrechter Glaubenskrieg innerhalb der Sachverständigen, die sich zur Beantwortung dieser Frage berufen fühlen. Einige schließen in einem Großteil der Fälle das Entstehen eines Schleudertraumas rundweg aus.

 

Rz. 287

Dabei geht es nach den neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr um die Frage, wie hoch die Kollisions- und Aufprallgeschwindigkeit war, sondern welche kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (v = ? km/h) stattgefunden hat (umfassend dazu Löhle, HWS-Problematik, zfs 1997, 441 ff.). Wenn diese nur gering war, gelangen einige Gerichte aufgrund entsprechender Gutachten immer wieder zu der Erkenntnis, die Entstehung eines HWS-Traumas zu verneinen. Dazu eine Rechtsprechungsübersicht:

5 km/h: LG Heilbronn zfs 1998, 173
6 km/h: OLG Hamm zfs 2001, 160 = NZV 2001, 303
7 km/h: OLG Hamm zfs 1996, 51
6 bis 9 km/h: OLG Hamburg NZV 1998, 415
8 bis 12 km/h: LG Stuttgart zfs 1997, 15; LG Paderborn zfs 1998, 376
10 km/h: KG zfs 1998, 13; OLG Karlsruhe zfs 1998, 375 OLG Hamm NZV 1999, 292, LG Berlin zfs 2001, 108; LG Hildesheim NZV 2001, 305
19 km/h: AG Kiel SP 1996, 382.
 

Rz. 288

Es wurde und wird in einer Vielzahl von Entscheidungen leider immer noch die – vom BGH nun nicht mehr geteilte (BGH Urt. v. 28.2.2003, zfs 2003, 287 ff., siehe unten Rdn 291) – Auffassung vertreten, eine kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung von v = 10 km/h könne heute als gesicherte Untergrenze für das Entstehen eines HWS-Traumas gelten, allerdings nur bei einem Heckaufprall (OLG Karlsruhe zfs 1998, 375; OLG Hamm zfs 1998, 460, OLG Hamm NJW 2000, 878, OLG Hamm DAR 2001, 361; LG Berlin zfs 2001, 108; Löhle, HWS-Problematik, zfs 1997, 441 ff.). Damit sind aber die Postulate der Versicherer, eine "Harmlosigkeits- bzw. Unmöglichkeitsgrenze" von 15 km/h zu begründen, in dieser Schlichtheit jedenfalls überholt (vgl. dazu auch Castro/Becke, zfs 2002, 365, 366).

 

Rz. 289

Die in dieser Rechtsprechung zu verzeichnende Zustimmung zu einer "Harmlosigkeitsgrenze" im Bereich um v = 10 km/h darf allerdings nicht zu dem Schluss verleiten, eine solche Grenze sei wissenschaftlich tatsächlich eindeutig abgesichert und über jeden Zweifel erhaben und Gerichte, die ihnen nicht folgen, verstießen gegen Denkgesetze (Dannert, Schadensersatzforderungen nach unfallbedingter Verletzung der Halswirbelsäule (HWS), zfs 2002, 2 ff.). Eine solche Auffassung verkürzt das physikalische Geschehen auch allzu sehr. Auch bei einer anstoßbedingten Geschwindigkeitsänderung von unter 10 km/h kann nämlich sehr wohl ein HWS-Syndrom eintreten (AG Ludwigshafen zfs 2001, 452).

 

Rz. 290

Die Auffassung, wonach bei Heckunfällen mit einer bestimmten, im Niedriggeschwindigkeitsbereich liegenden kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung eine HWS-Verletzung generell auszuschließen sei, ist aber insbesondere aus orthopädischer Sicht so nicht richtig (Castro/Becke, zfs 2002, 365 f.). Gegen die schematische Annahme einer solchen "Harmlosigkeitsgrenze" spricht auch, dass die Kausalitätsfrage nicht allein von der kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung, sondern daneben von einer Reihe anderer Faktoren abhängt. Das gestoßene Fahrzeug erfährt zwar als System eine Geschwindigkeitsänderung; entscheidend für die auf den Körper des Insassen einwirkende Belastung ist jedoch zusätzlich die Überdeckungszeit beider Fahrzeuge, der Zustand des Sitzes und die eingenommene Sitzposition (vgl. Manzotte/Castro, NZV 2002, 499; OLG Frankfurt, zfs 2008, 264 ff.).

 

Rz. 291

Der BGH hat zu dieser Frage zwischenzeitlich in der Weise Stellung bezogen, dass "allein der Umstand, dass sich ein Unfall mit einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ("Harmlosigkeitsgrenze") ereignet hat, die tatrichterliche Überzeugungsbildung nach § 286 ZPO von seiner Ursächlichkeit für eine HWS-Verletzung nicht ausschließt" (BGH zfs 2003, 287 ff.; BGH DAR 2008, 587 ff.; DAR 2008, 590). Damit hat sich der BGH ausdrücklich gegen die verbreitete Praxis der Untergerichte gewandt, wegen der – oft sogar nicht ausreichend gesicherten – Feststellung einer geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung zwischen 4 und 10 km/h durch den Unfall eine Verletzung der Halswirbelsäule auszuschließen. Es liegen nämlich keinerlei gesicherte medizinische Erkenntnisse zu einer solchen Harmlosigkeitsgrenze vor. Wegen des Ursachenbündels eines HWS-Syndroms ist es nicht möglich, das Problem auf einen einzigen Faktor zu reduzieren. Deshalb ist stets eine Einzelfallprüfung vorzunehmen.

 

Rz. 292

Erfreulicherweise hat sich die Meinung zu diesem Themenkomplex in der Rechtsprechung weitestgehend und zugunsten des Geschädigten g...

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