Rz. 28

Aufgrund der Testierfreiheit steht es dem Erblasser frei, die Nachfolge in seinen Nachlass weitgehend nach Gutdünken und freiem Ermessen durch Verfügung von Todes wegen zu regeln.[6] Er kann also auch seine nächsten Angehörigen enterben. Aus diesem Grund sieht das Gesetz in den §§ 2303 ff. BGB für diesen Personenkreis ein Pflichtteilsrecht vor. Die Testierfreiheit ist durch die verfassungsrechtliche Garantie des Erbrechts gem. Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG geschützt und hat Vorrang vor dem Prinzip der Familienerbfolge. Durch die §§ 2303 ff. BGB ist nahen Familienangehörigen eine Mindesteilhabe am Nachlass gesichert und damit ein Ausgleich zwischen Familienerbrecht und Testierfreiheit geschaffen.

 

Rz. 29

Grundsätzlich muss sich der Testierende bei der Errichtung einer Verfügung von Todes wegen nicht um das Pflichtteilsrecht kümmern. Sofern der Pflichtteilsberechtigte seinen Geldanspruch gegen den Erben oder die Erbengemeinschaft geltend macht, bleibt die letztwillige Verfügung hiervon unberührt. Regelmäßig will der Erblasser aber den Erben die mit dem Pflichtteilsverlangen verbundenen Unannehmlichkeiten ersparen. Deshalb muss er bei Errichtung des Testaments die Grenzen, die ihm das Pflichtteilsrecht aufbürdet, einkalkulieren. Dabei ist festzustellen, dass für den Erblasser, bei dem bei Eintritt der gesetzlichen Erbfolge der gesamte Nachlass Pflichtteilsberechtigten zufallen würde, im Ergebnis lediglich die Hälfte des Nachlasswertes frei disponibel ist.[7]

 

Rz. 30

Damit der Erblasser das Pflichtteilsrecht nicht zu Lebzeiten außer Kraft setzen kann, sieht das Gesetz den sog. Pflichtteilsergänzungsanspruch vor, der quasi den Pflichtteilsanspruch auf alle Schenkungen des Erblassers zu Lebzeiten (innerhalb von zehn Jahren vor seinem Tod) erweitert. Bei Schenkungen unter Ehegatten beginnt die Zehnjahresfrist nicht vor Auflösung der Ehe (§ 2325 Abs. 3 S. 2 BGB). Nach § 2325 Abs. 3 BGB wird die Schenkung innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. Sind zehn Jahre seit der Leistung des verschenkten Gegenstands verstrichen, bleibt die Schenkung komplett unberücksichtigt (Pro-rata-temporis-Lösung!).

 

Rz. 31

Grundsätzlich liegt es in der Hand des Pflichtteilsberechtigten, seinen schuldrechtlichen Geldanspruch gegen den oder die Erben geltend zu machen. Die letztwillige Verfügung bleibt hiervon unberührt. Lediglich in den Fällen des § 2306 Abs. 1 S. 1 BGB konnte es bis zur Erbrechtsreform zu einer Teilunwirksamkeit der letztwilligen Verfügung kommen. Die Nichtbeachtung des § 2306 BGB stellte in der Praxis einen klassischen Gestaltungsfehler dar. Hatte demnach ein pflichtteilsberechtigter Erbe die Hälfte des gesetzlichen Erbteils oder weniger erhalten, so galt bis zur Erbrechtsreform § 2306 Abs. 1 S. 1 BGB mit der Konsequenz, dass Beschränkungen (Nacherbschaft, Testamentsvollstreckung, Teilungsanordnung) und Beschwerungen (Vermächtnisse und Auflagen) als nicht angeordnet gelten. Die Wirkungen des § 2306 Abs. 1 S. 1 BGB trafen i.d.R. ausschließlich den Erbteil des Pflichtteilsberechtigten, der von der Beschränkung oder Beschwerung betroffen ist. Konnte die Anordnung nur einheitlich erfüllt werden, entfiel sie ganz.

War der hinterlassene Erbteil größer als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, so stand es dem Pflichtteilsberechtigten frei, den Pflichtteil zu verlangen, wenn er den Erbteil ausgeschlagen hat (§ 2306 Abs. 1 S. 2 BGB).

 

Rz. 32

Für die Frage, ob § 2306 BGB zur Anwendung kam, war grundsätzlich auf die Quotentheorie bzw. im Fall von anrechnungs- oder ausgleichungspflichtigen Vorempfängen auf die Werttheorie abzustellen.[8]

 

Rz. 33

Dem Pflichtteilsberechtigten steht nunmehr nach § 2306 Abs. 1 BGB generell das Wahlrecht zu. Er kann entweder den Erbteil mit allen Belastungen oder Beschwerungen annehmen oder den Erbteil ausschlagen und dennoch den Pflichtteil verlangen. Damit kann sich der Pflichtteilsberechtigte seinen unbeschränkten Pflichtteilsanspruch sichern. Grundsätzlich besteht aber die sich aus der kurzen Sechs-Wochen-Frist des § 1944 BGB ergebende Problematik, nämlich die wirtschaftlichen Folgen einer möglichen Ausschlagung abzuschätzen. Insbesondere dann, wenn der Nachlass durch umfangreiche Vermächtnisse belastet ist, setzt dies beim Pflichtteilsberechtigten zumindest eine grobe Kenntnis der Zusammensetzung des Nachlasses voraus, um einzuschätzen, ob das, was nach der Erfüllung der Vermächtnisse übrigbleibt, werthaltiger ist als der Pflichtteil.

 

Rz. 34

Es liegt auf der Hand, dass die Bedeutung einer entsprechenden Anfechtung der Annahmeerklärung oder der Versäumung der Ausschlagungsfrist des § 1956 BGB erheblich gestiegen ist. Hat sich der Erbe über das Vorhandensein wesentlicher Nachlassgegenstände getäuscht und deswegen eine falsche Entscheidung getroffen, bleibt ihm nur die Variante, die Erbschaftsannahme bzw. Ausschlagung der Erbschaft wegen Eigenschaftsirrtums gem. § 119 Abs. 2 BGB anzufechten. Auch di...

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