Rz. 72

Eine ohne vorherige Erlaubnis des Integrationsamtes erklärte Kündigung ist gem. § 168 SGB IX i.V.m. § 134 BGB nichtig. Der Verstoß kann darüber hinaus auch die Vermutung des § 22 AGG, mithin einen Entschädigungsanspruch, auslösen.[136] Es gelten die gleichen Grundsätze wie bei einem Verstoß gegen die Kündigungsverbote nach § 9 MuSchG und § 18 BEEG. Die Unwirksamkeit der Kündigung muss gem. § 4 KSchG innerhalb von drei Wochen geltend gemacht werden. Kündigt der Arbeitgeber dagegen einem schwerbehinderten Arbeitnehmer in Kenntnis von dessen Schwerbehinderteneigenschaft, ohne zuvor nach § 168 SGB IX die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes einzuholen, kann der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der Kündigung bis zur Grenze der Verwirkung gerichtlich geltend machen. Nach § 4 S. 4 KSchG beginnt in derartigen Fällen die dreiwöchige Klagefrist erst ab der Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an den Arbeitnehmer.[137] Aus einer Analogie zu § 4 S. 4 KSchG folgt, dass die dreiwöchige Klagefrist auch der §§ 21, 17 S. 1 TzBfG nicht beginnt, wenn der Arbeitgeber weiß, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert ist, und dennoch keine Zustimmung des Integrationsamtes vor der erstrebten Beendigung durch auflösende Bedingung einholt.[138]

 

Rz. 73

Die Durchführung des Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 und 2 SGB IX ist keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung.[139] Damit steht im Einklang, dass die Vorschrift selbst keine Sanktionen vorsieht. Sie stellt allerdings eine Konkretisierung des dem gesamten Kündigungsschutzrecht innewohnenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dar.[140] Von einer Kündigungsrelevanz ist damit dann auszugehen, wenn der schwerbehinderte Arbeitnehmer tatsächlich darlegen kann, dass die Kündigung bei ordnungsgemäßer Durchführung der Präventionsmaßnahmen hätte vermieden werden können. In diesem Fall wäre der Arbeitgeber gehalten, im Prozess das Gegenteil zu beweisen. Steht die Pflichtverletzung dagegen in keinem Zusammenhang mit der Behinderung und verspricht das Präventionsverfahren keinen Erfolg, braucht es nicht durchgeführt zu werden.[141] Das Präventionsverfahren muss daher zumindest geeignet sein, die auftretenden Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis zu beseitigen, damit die Unterlassung des Verfahrens zu Lasten des Arbeitgebers Berücksichtigung finden kann. Dies ist bei schweren Pflichtverletzungen regelmäßig nicht der Fall.

[136] BAG v. 2.6.2022, NZA 2022, 1461. Die Vermutung des § 22 AGG wird durch Verstöße gegen Verfahrens- und Förderpflichten ausgelöst. Das bloße Unterlassen der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements allein kann dagegen die Vermutungswirkung der Benachteiligung des § 22 AGG nicht begründen.
[138] BAG v. 9.2.2011, NZA 2011, 118.
[140] Balders/Lepping, NZA 2005, 854, 857, wollen keinerlei Sanktionen an den Verstoß gegen § 167 Abs. 1 und 2 SGB IX knüpfen.

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