Rz. 70

Bevor der Arbeitgeber sich entschließt, das Arbeitsverhältnis eines schwerbehinderten Arbeitnehmers zu kündigen, hat er gem. § 167 Abs. 1 SGB IX beim Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis, die zu dessen Gefährdung führen könnten, möglichst frühzeitig die Schwerbehindertenvertretung, den Betriebs- oder Personalrat sowie das Integrationsamt einzuschalten. Mit ihnen hat der Arbeitgeber alle Möglichkeiten und zur Verfügung stehenden Hilfen sowie mögliche finanzielle Leistungen zu erörtern, mit denen die Schwierigkeiten beseitigt werden können, um das Arbeitsverhältnis möglichst dauerhaft fortzusetzen. Eine Erweiterung und Konkretisierung erfährt dieser Präventionsauftrag in § 167 Abs. 2 SGB IX für die Fälle, in denen das Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen gefährdet wird. Ist der schwerbehinderte Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig, muss der Arbeitgeber mit dem Betriebs- oder Personalrat und der Schwerbehindertenvertretung mit Zustimmung und Beteiligung des betroffenen Arbeitnehmers die Möglichkeiten klären, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, mit welchen Hilfen oder Leistungen einer erneuten Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie der Arbeitsplatz erhalten werden kann (betriebliches Eingliederungsmanagement). Das betriebliche Eingliederungsmanagement ist auch dann durchzuführen, wenn bereits eine Zustimmung des Integrationsamts zu einer krankheitsbedingten Kündigung vorliegt.[134] Da eine Kündigung erst nach Abschluss des BEM-Verfahrens ausgesprochen werden kann, besteht die Gefahr, dass der Arbeitgeber mit der Frist des § 171 Abs. 3 SGB IX in Konflikt gerät, wonach die Kündigung nach Zustimmung des Integrationsamts nur innerhalb eines Monats erklärt werden kann.

 

Rz. 71

 

Praxishinweis

Der Ablauf des betrieblichen Eingliederungsmanagements stellt sich regelmäßig wie folgt dar: Zunächst muss die gesundheitliche Einschränkung des betroffenen Arbeitnehmers erkannt werden. Handlungsbedarf besteht bei ununterbrochener oder wiederholter sechswöchiger Arbeitsunfähigkeit innerhalb eines Jahres sowie bei gesundheitlichen Einschränkungen, die den Arbeitsplatz des betroffenen Arbeitnehmers unangemessen erscheinen lassen. Da die gesetzliche Regelung den Arbeitgeber zur Aktivität verpflichtet, nimmt dieser Kontakt zum betroffenen Arbeitnehmer auf und versucht, die Möglichkeiten eines weiteren Einsatzes und die Ziele und Vorstellungen des Arbeitnehmers abzuklären. Alle sich hieraus ergebenden weiteren Schritte bedürfen der Zustimmung des Arbeitnehmers. Besteht weiterer Handlungsbedarf schaltet der Arbeitgeber – soweit vorhanden – die Schwerbehindertenvertretung und den Betriebsrat ein, ggf. wird der Werks- oder Betriebsarzt hinzugezogen. Schließlich werden zwischen den Beteiligten die Möglichkeiten erörtert, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden, mit welchen Leistungen oder Hilfen erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und der Arbeitsplatz erhalten werden kann. Zur Umsetzung von außerbetrieblichen bzw. Unterstützungsmaßnahmen der Rehabilitationsträger zieht der Arbeitgeber das Integrationsamt hinzu. Auch Krankenkassen, Berufsgenossenschaften, Rentenversicherungsträger und Agenturen für Arbeit bieten Unterstützung an. Gem. § 166 Abs. 3 Nr. 5 SGB IX können in einer Integrationsvereinbarung Regelungen zur Durchführung einer betrieblichen Prävention (betriebliches Eingliederungsmanagement) und zur Gesundheitsförderung getroffen werden.

Im Falle einer Kündigung innerhalb der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG hat eine unterbliebene Durchführung der in § 167 Abs. 1 und 2 SGB IX genannten Verfahren keine kündigungsrechtlichen Folgen, sondern stellt lediglich einen bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen Grund dar.[135]

[134] BAG v. 15.12.2022, NZA 2023, 500.

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