Rz. 64

BGH, Urt. v. 24.3.2009 – VI ZR 199/08 und VI ZR 51/08, zfs 2009, 492, 495 = VersR 2009, 788, 790

Zitat

BGB § 832 Abs. 1

a) Normal entwickelten Kindern im Alter von 7 ½ Jahren ist im Allgemeinen das Spielen im Freien auch ohne Aufsicht gestattet, wenn die Eltern sich über das Tun und Treiben in großen Zügen einen Überblick verschaffen.
b) Ein Aufsichtspflichtiger muss dafür sorgen, dass ein Kind im Alter von 5 ½ Jahren auf einem Spielplatz in regelmäßigen Abständen von höchstens 30 Minuten kontrolliert wird.

a) Der Fall

 

Rz. 65

Die Kläger nahmen die Beklagten wegen Verletzung der Aufsichtspflicht über ihre Kinder in Anspruch.

Am 9.7.2003 zerkratzten der 7 Jahre und 7 Monate alte M und der 5 Jahre und 4 ½ Monate alte P insgesamt 17 Pkw, die auf einem Parkplatz abgestellt waren, der zu dem Wohnkomplex gehört, in dem die Beklagten und ihr Sohn wohnten. Unter den beschädigten Pkw befanden sich auch die Fahrzeuge der Kläger. Zu dem Wohnkomplex gehört auch ein Spielplatz, auf dem die beiden Kinder vor dem Schadensereignis u.a. gespielt hatten.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 66

§ 832 Abs. 1 BGB enthält eine Beweislastumkehr zu Lasten des Aufsichtspflichtigen, wenn der objektive Tatbestand einer unerlaubten Handlung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB durch den Aufsichtsbedürftigen erfüllt ist. Der Aufsichtspflichtige muss darlegen und beweisen, was er zur Erfüllung der Aufsichtspflicht unternommen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsicht nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Eltern in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Eltern nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung nach § 832 BGB stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falles genügt worden ist. Entscheidend ist also nicht, ob der Erziehungsberechtigte allgemein seiner Aufsichtspflicht genügt hat; entscheidend ist vielmehr, ob dies im konkreten Fall und in Bezug auf die zur widerrechtlichen Schadenszufügung führenden Umstände geschehen ist.

 

Rz. 67

Bei dem älteren normal entwickelten Kind im Alter von 7 Jahren und 7 Monaten war das unbeaufsichtigte Spielenlassen auf einem Spielplatz auch über einen Zeitraum von bis zu zwei Stunden in Verbindung mit der Belehrung, den Spielplatz nicht zu verlassen, unter dem Gesichtspunkt der Aufsichtspflicht grundsätzlich nicht zu beanstanden ist.

 

Rz. 68

Zu dem jüngeren Kind hat der erkennende Senat in seiner Parallelentscheidung ausgeführt, dass bereits Kinder in einem Alter von fünf Jahren ohne ständige Überwachung im Freien, etwa auf einem Spielplatz oder Sportgelände oder in einer verkehrsarmen Straße auf dem Bürgersteig, spielen dürfen und dabei nur gelegentlich beobachtet werden müssen. Dabei ist regelmäßig ein Kontrollabstand von höchstens 30 Minuten ausreichend, um das Spiel von bisher unauffälligen fünfjährigen Kindern außerhalb der Wohnung bzw. des elterlichen Hauses zu überwachen. Darüber hinaus trifft die Eltern die Verpflichtung, ein 5 ½-jähriges Kind regelmäßig anzuhalten, fremde Sachen zu achten und nicht zu beschädigen. Eine solche allgemeine Belehrung ist im Alter von 5 ½ Jahren in Anbetracht des Spieltriebs, des Erkundungsdrangs und des noch nicht ausgereiften Verständnisses für das Eigentum Dritter erforderlich, um die Schädigung fremden Eigentums möglichst zu vermeiden. Davon wäre auch die konkrete Beschädigung fremder Autos mit umfasst gewesen.

 

Rz. 69

Diese Grundsätze gelten erst recht für bereits in größerem Maße in die Selbstständigkeit entlassene Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren. In diesem Alter ist weder eine Überwachung "auf Schritt und Tritt" noch eine regelmäßige Kontrolle in kurzen, etwa halbstündigen Zeitabständen wie bei kleineren Kindern erforderlich. Grundsätzlich muss Kindern in diesem Alter, wenn sie normal entwickelt sind, das Spielen im Freien auch ohne Aufsicht in einem räumlichen Bereich gestattet sein, der den Eltern ein sofortiges Eingreifen nicht ermöglicht. Zum Spiel der Kinder gehört auch, Neuland zu entdecken und zu "erobern". Dies kann ihnen, wenn damit nicht besondere Gefahren für das Kind oder für andere verbunden sind, nicht allgemein untersagt werden. Vielmehr muss es bei Kindern dieser Altersstufe, die in der Regel den Schulweg allein zurücklegen, im Allgemeinen genügen, dass die Eltern sich über das Tun und Treiben in großen Zügen einen Überblick verschaffen, sofern nicht konkreter Anlass zu besonderer Aufsicht besteht. Andernfalls würde jede vernünftige Entwicklung des Kindes, insbesondere der Lernprozess im Umgang mit Gefahren, gehemmt. Von diesen Grundsätzen war im Streitfall auszugehen, weil keine Umstände vorlagen, die aufgrund der Entwicklung des Kindes oder der Ausgestaltung des Spielplatzes eine andere Bewertung erfordert hätten.

 

Rz. 70

Da es insbesondere von den Eigenheiten des Kindes und seinem Erziehungsstand abhängt, in ...

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