Rz. 101

Außerhalb des Anwendungsbereiches des § 125 Abs. 1 InsO ist eine Beschränkung der Sozialauswahl auf grobe Fehlerhaftigkeit auch in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 Abs. 1 BetrVG möglich, denn nach § 1 Abs. 4 S. 1 KSchG dürfen die Betriebspartner in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG hinsichtlich der sozialen Gesichtspunkte, die durch § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG auf die vier Grundkriterien Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, gesetzliche Unterhaltsverpflichtungen und Schwerbehinderung beschränkt sind, die Gewichtung dieser Kriterien zueinander festlegen. Ist in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 Abs. 1, 2 BetrVG festgelegt, wie diese Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind, so kann die soziale Auswahl der Arbeitnehmer nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüft werden (§ 1 Abs. 4 KSchG). Voraussetzung ist das Zustandekommen einer entsprechenden Betriebsvereinbarung über Auswahlrichtlinien für Kündigungen.

 

Rz. 102

Auswahlrichtlinien können nicht nur in Betriebsvereinbarungen, sondern auch in Tarifverträgen enthalten sein (s. zum vormaligen Recht, Schaub, NZA 1987, 217, 223: Weller, RdA 1986, 222, 229). Dann stellt sich das Problem, ob Arbeitnehmer den sie belastenden Auswahlrichtlinien mit dem Hinweis begegnen können (so Buschmann, AuR 1996, 285, 288), sie seien nicht kraft Organisationszugehörigkeit tarifgebunden (§ 3 Abs. 3, 4 Abs. 1 TVG) und der Tarifvertrag sei nicht für allgemeinverbindlich erklärt (§ 5 Abs. 4 TVG). Bei Tarifverträgen mit Auswahlrichtlinien dürfte es sich um Rechtsnormen über betriebliche Fragen handeln, die für alle Betriebe gelten (Betriebsnormen), deren Arbeitgeber tarifgebunden sind (§ 3 Abs. 2 TVG), sodass es auf die Tarifgebundenheit der einzelnen Arbeitnehmer nicht ankommt (so zu § 1 Abs. 4 KSchG a.F. [1996]: Berscheid, BuW 1997, 672, 676; Fischermeier, NZA 1997, 1089, 1095; Grunsky/Moll, Rn 252, 253; Lakies, NJ 1997, 121, 125; so zu § 1 Abs. 4 KSchG Ascheid/Preis/Schmidt/Kiel, § 1 KSchG Rn 695; SPV/Preis, KSchR, Rn 11543; a.A. Buschmann, AuR 1996, 285, 288). Der Insolvenzverwalter hat also die Möglichkeit, die Sozialauswahl in einem Haustarifvertrag mit der zuständigen Gewerkschaft zu regeln, was sich namentlich dann anbietet, wenn der Betrieb keinen Betriebsrat hat. Solche Regelungen können auch Bestandteil eines Sanierungstarifvertrages sein (MK-InsO/Löwisch/Caspers, § 125 InsO Rn 51).

 

Rz. 103

Die Auswahlrichtlinie darf ihrerseits nicht grob fehlerhaft sein. Der Prüfungsmaßstab der groben Fehlerhaftigkeit gilt sowohl für die Auswahlkriterien und ihre relative Gewichtung als auch für die Bildung der auswahlrelevanten Arbeitnehmergruppen (BAG v. 24.10.2013, NZA 2014, 46). Die Auswahlrichtlinie muss wenigstens die vier "Grund- oder Kerndaten" (Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten, Schwerbehinderung) berücksichtigen. Ob sie darüber hinaus andere Gesichtspunkte einbeziehen darf, ist dem Gesetz nicht unmittelbar zu entnehmen. Jedenfalls aber braucht der Insolvenzverwalter neben den vier im Gesetz vorgeschriebenen Kriterien keine weiteren zu berücksichtigen (BAG v. 9.11.2006 – 2 AZR 812/05, NJW 2007, 2429 = NZA 2007, 549, 552, unter Rn 29). Eine Auswahlrichtlinie darf zwar weitere Auswahlkriterien enthalten (so zu § 1 Abs. 4 KSchG a.F.: Bader, NZA 1999, 64, 69; Löwisch, BB 1999, 102, 103: a.A. B. Gaul, DB 1998, 2467, 2468; zu § 1 Abs. 4 KSchG; Bader, NZA 2004, 65, 75, hält die Berücksichtigung zusätzlicher sozialer Gesichtspunkte nach neuem Recht für zweifelhaft), allerdings kann nicht nur die Nichtberücksichtigung eines der vier gesetzlichen Auswahlkriterien, sondern auch die Berücksichtigung rechtlich nicht schutzwürdiger zusätzlicher Kriterien zur Rechtswidrigkeit der Sozialauswahl führen (SPV/Preis, KSchR, Rn 1163).

 

Rz. 104

Grobe Fehlerhaftigkeit der Bewertung der Auswahlgesichtspunkte ist anzunehmen (Bader, NZA 1996, 1125, 1131; Berscheid, BuW 1997, 672, 676; Grunsky/Moll, Rn 240, 241; Kittner, AuR 1997, 182, 186 f.; Lorenz, DB 1996, 1973, 1974; Sander, BuW 1997, 30, 36; Schwedes, BB Beil. 17/1996, 2, 4; SPV/Preis, KSchR, Rn 1149), wenn die Betriebspartner eines der vier gesetzlichen Auswahlkriterien überhaupt nicht berücksichtigen oder ihm ein völlig ungenügendes oder überhöhtes Gewicht beimessen.

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