Rz. 114

Die Regelungen des dritten Abschnitts des KSchG dienen – ursprünglich – einem arbeitsmarktpolitischen Zweck. Zielsetzung der §§ 17 ff. KSchG ist es, die Arbeitsverwaltung rechtzeitig über anstehende Massenentlassungen zu informieren, damit sie sich rechtzeitig auf eine erhöhte (personelle und finanzielle) Beanspruchung ihrer Ressourcen durch die zu erwartenden Entlassungen einstellen und diese ggf. noch verhindern oder abmildern, zumindest aber steuern kann (vgl. BAG v. 6.11.2008 – 2 AZR 935/07, NZA 2009, 1013; BAG v. 23.3.2006, NZA 2006, 971; BAG v. 24.2.2005, NZA 2005, 766; APS/Moll, vor §§ 17 ff. KSchG Rn 8; KR/Weigand, § 17 KSchG Rn 7; ErfK/Kiel, § 17 KSchG Rn 2). Die Agentur für Arbeit soll die Möglichkeit haben, rechtzeitig Maßnahmen zur Vermeidung oder wenigstens zur Verzögerung von Belastungen des Arbeitsmarkts einzuleiten und für anderweitige Beschäftigungen der Entlassenen zu sorgen (BAG v. 18.1.2012, ZInsO 2012, 803 = BB 2012, 315). Neben dem arbeitsmarktpolitischen Zweck dienen die §§ 17 ff. KSchG insbesondere bei unionsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften auch und gerade einem effektiven, individuellen Schutz der betroffenen Arbeitnehmer bei Massenentlassungen (EuGH v. 15.2.2007 – C 270/05, ZIP 2007, 496; EuGH v. 10.9.2009, ZInsO 2009, 1224). Ausgehend von der ursprünglichen (Haupt-) Zielrichtung der §§ 17 ff. KSchG, Belastungen für den Arbeitsmarkt durch Massenentlassungen frühzeitig zu erkennen und abfedern zu können, wurde unter dem in §§ 17, 18 KSchG verwendeten Begriff der Entlassung der Zeitpunkt der tatsächlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses bzw. des tatsächlichen Ausscheidens der Arbeitnehmer aus dem Betrieb verstanden (BAG v. 11.3.1999, ZIP 2009, 1568 = ZInsO 1999, 420; Arens/Brand, § 1 Rn 768).

 

Rz. 115

Mit der ("Junk"-) Entscheidung des EuGH v. 27.1.2005 (C 188/03, NJW 2005, 1099 = NZA 2005, 213 = ZInsO 2005, 591 m. Anm. Siafarikas = ZIP 2005, 230) hat sich das Verständnis des Begriffs Entlassung grundlegend gewandelt: Der Begriff Entlassung ist unionsrechtskonform, nach den Vorschriften der Art. 2 bis Art. 4 RL 98/59/EG, der sog. MassenentlassungsRL v. 20.7.1998, dahin gehend auszulegen, dass (bereits) die Kündigungserklärung des Arbeitgebers das Ereignis ist, das als "Entlassung" gilt. Im Anschluss an die EuGH-Entscheidung hat das BAG (v. 23.3.2006, NZA 2006, 971 = ZIP 2006, 1644; BAG v. 13.7.2006, NZA 2007, 25 = ZInsO 2007, 1060 = ZIP 2006, 2396; BAG v. 24.8.2006 – 8 AZR 317/05, NZA 2007, 1287; BAG v. 22.3.2007, NZA 2007, 1101) unter Aufgabe seiner früheren Rspr. dementsprechend entschieden, dass unter "Entlassen" i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG der Ausspruch der Kündigung zu verstehen ist.

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