Rz. 42

In der Rechtsprechung umstritten ist die Frage, ob die Anrechnung einer Gebühr vor oder nach Anwendung der Kürzungsvorschrift des § 15 Abs. 3 RVG vorzunehmen ist. Da Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG ebenso wie die Anmerkung zu Nr. 3305 VV RVG besagt, dass die Gebühr "auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet" werden muss, ist die Anrechnung zweifelsohne vor der Kürzung nach § 15 Abs. 3 RVG vorzunehmen. Dies betrifft z. B. die Fälle, in denen zusätzlich zur Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RGV eine Differenz-Verfahrensgebühr nach Nr. 3101 Ziff. 2 VV RVG entsteht (vergleiche § 7 Rdn 28 ff.).

Ganz deutlich wird dies hinsichtlich der anzurechnenden Geschäftsgebühr in Vorbemerkung 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG geregelt, denn demnach wird nur die Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr des gerichtlichen Verfahrens angerechnet, die "wegen desselben Gegenstands" entstanden ist, der in das gerichtliche Verfahren übergegangen ist. Falls in dem der außergerichtlichen Tätigkeit nachfolgenden Prozess zwei Verfahrensgebühren (Nrn. 3100 und 3101 VV RVG) entstehen, darf folglich die Geschäftsgebühr nur auf diejenige dieser Verfahrensgebühren angerechnet werden, die bezüglich desselben Gegenstands wie bei der vorgerichtlichen Tätigkeit entstanden ist. So wurde dies entschieden vom OLG Karlsruhe (Beschluss vom 03.02.2011 – 5 WF 220/10), vom OLG München (Beschluss vom 07.03.2012 – 11 WF 360/12) und vom LAG Schleswig-Holstein (Beschluss vom 23.12.2019 – 2 Ta 100/19).

Wenn also in einem Prozess ein Vergleich zu Protokoll gegeben wird, in dem eine Einigung über rechtshängige und über nicht rechtshängige Ansprüche erzielt wurde, dann entsteht demnach für die rechtshängigen Ansprüche eine Verfahrensgebühr und für die nicht rechtshängigen Ansprüche entsteht eine Differenz-Verfahrensgebühr (siehe § 7 Rdn 28 ff.). Die vorgerichtlich wegen des eingeklagten Gegenstands entstandene Geschäftsgebühr wird nun auf die Verfahrensgebühr wegen desselben Gegenstands angerechnet, das sind die rechtshängigen Ansprüche.

Die nicht rechtshängigen Ansprüche betreffen eben einen anderen Streitgegenstand als den, für den die vorgerichtliche Geschäftsgebühr berechnet wurde. Sollte auch für die nicht rechtshängigen Ansprüche zuvor eine außergerichtliche Geschäftsgebühr erwachsen sein, dann wäre diese folglich – vor der Kürzung – nur hinsichtlich dieser nicht rechtshängigen Ansprüche anzurechnen, also auf die Differenz-Verfahrensgebühr.

 

Merke:

Nach den Anrechnungsvorschriften wird immer die Geschäftsgebühr wegen desselben Gegenstands auf die entsprechende Verfahrensgebühr angerechnet.

Falls die Anrechnung der Geschäftsgebühr und auch eine Prüfung nach § 15 Abs. 3 RVG zusammentreffen, muss die Anrechnung vor der Prüfung vorgenommen werden.

"Erst anrechnen, dann kürzen!"

 

Beispiel:

Langspecht hat gegen Fischvoigt eine ausstehende Forderung von 94.000,00 EUR aus einem Kaufvertrag. Wegen dieser Forderung erteilt Langspecht unbedingten Klageauftrag an RA Sparkuhl, da Fischvoigt jede Zahlung verweigert hat. RA Sparkuhl erhebt die Klage beim zuständigen Landgericht.

Langspecht macht gegen Fischvoigt weitere 6.000,00 EUR wegen einer Schadenersatzforderung geltend. Da die Erfolgsaussichten hinsichtlich dieser strittigen 6.000,00 EUR ungewiss sind, wird RA Sparkuhl von Langspecht beauftragt, diese Forderung zunächst nur außergerichtlich gegenüber Fischvoigt einzufordern. RA Sparkuhl übersendet nach Prüfung der Rechtslage deswegen ein Aufforderungsschreiben mit rechtlicher Begründung an den Schuldner.

Das Landgericht ordnet das schriftliche Vorverfahren an und bestimmt nach dem Schriftsatzwechsel Termin zur mündlichen Verhandlung. Im Termin wird auch ein Vergleich erörtert. Vor dem zweiten Termin erhält RA Sparkuhl von seinem Mandanten den Auftrag, nun auch die 6.000,00 EUR in einen gerichtlich zu protokollierenden Vergleich mit einzubeziehen. RA Sparkuhl führt mit der Gegenseite eine Besprechung mit dem Ziel, eine Einigung über die 94.000,00 EUR unter Einbeziehung des noch nicht rechtshängigen Anspruchs über die 6.000,00 EUR zu erreichen. Nach einigen außergerichtlichen Besprechungen kommt es zu einem Vergleich, der im zweiten Termin zu gerichtlichem Protokoll gegeben wird, wonach der Beklagte zur Abgeltung der geltend gemachten Forderungen von insgesamt 100.000,00 EUR an den Kläger einen Betrag von 75.000,00 EUR zahlt.

RA Sparkuhl erstellt folgende Vergütungsrechnungen, wobei die Geschäftsgebühr auf die wegen desselben Gegenstands entstehende Verfahrensgebühr angerechnet wird:

I. Vergütungsrechnung für die außergerichtliche Tätigkeit

Gegenstandswert: 6.000,00 EUR

 
1,3

Geschäftsgebühr

gem. §§ 2, 13, 14 RVG, Nr. 2300 Anm. Abs. 1 VV RVG
507,00 EUR
20 %

Pauschale für Post- und Telekommunikationsentgelte

gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7002 VV RVG
20,00 EUR
    527,00 EUR
19 % USt. gem. § 2 Abs. 2 S. 1 RVG, Nr. 7008 VV RVG 100,13 EUR
    627,13 EUR

II. Vergütungsrechnung für die Tätigkeit im Zivilprozess

Gegenstandswert: 94.000,00 EUR / 6.000,00 EUR

 
1,3

Verfahrens...

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