Rz. 76

Die o.g. Bedingungen sollen anhand des folgenden Praxisbeispiels näher erläutert werden. Im konkreten Fall geriet ein Radfahrer vor einen Linienbus und wurde von diesem erfasst. Der Radfahrer befuhr den Radweg rechts am Fahrbahnrand einer stadteinwärts führenden Straße. Er steuerte dann unvermittelt nach links, um die Straße zu überqueren. Zeitgleich näherte sich dann von hinten kommend der KOM, wobei er den Radfahrer mit der KOM-Front erfasste. Seitens der Polizei erfolgte eine Unfallaufnahme, in der die Endposition des KOM sowie auch die Endlage des Radfahrers dokumentiert wurden. Es galt nun die Geschwindigkeit des Omnibusses zum Kontaktzeitpunkt zu bestimmen, um dann mithilfe einer Weg-Zeit-Verknüpfung den Unfallhergang zu rekonstruieren.

Durch eine Auswertung der Diagrammscheibe konnte das Kollisionstempo bestimmt werden, da eine Aufzeichnungsanomalie zu erkennen war (Abb. 5.61, Hinweispfeil).

Abb. 5.61

Durch den Anstoß des Radfahrers kam es zu einer Erschütterung des Tachographen, wodurch die federnd gelagerte Nadel eine Anomalie zeichnete. Es konnte dadurch eine hinreichend genaue Geschwindigkeit dem Anstoß zugeordnet werden. Diese lag bei ca. 45 km/h (Abb. 5.62).

Abb. 5.62

An dieser Stelle sei erwähnt, dass bei der Auswertung von Diagrammscheiben Toleranzen mit in der Regel bis zu ± 3 km/h im Betrieb bzw. ± 6 km/h Maximaltoleranz gem. VO-EWG 3821/85 zu berücksichtigen sind. Berücksichtigt man die Toleranz im Betrieb des Fahrzeugs, so lässt sich ein Anstoßtempo zu ca. 42 km/h darstellen.

Die Auswertung ergab, dass der KOM-­Fah­­rer erst im Zeitpunkt der Kollision eine Bremsung einleitete, da der Diagrammschrieb direkt mit der Kollisionsgeschwindigkeit (anhand der Aufzeichnungsanomalie bestimmt) stark abfiel. Dies spricht für eine Vollbremsung des KOM.

 

Rz. 77

Bei einem weiteren Praxisbeispiel mit ähnlich gelagerter Kollision (Fußgänger/KOM-Kollision) war feststellbar, dass die Anomalie im Zuge des Graphenabfalls eintrat. Folglich kam es dann zu ­einer vorkollisionären Bremsung des KOM, wobei der Anstoß in der Bremsphase erfolgte. Hier war dann über die Diagramscheibenauswertung eine vorkollisionäre Reaktion auf das drohende Hindernis darstellbar. Es waren dann anhand der Auswertung der Diagrammscheibe eine Bremsausgangsgeschwindigkeit sowie auch eine Anstoßgeschwindigkeit ermittelbar. Im ersten Praxisbeispiel lagen Bremsausgangstempo und Anstoßgeschwindigkeit auf gleichem Niveau.

 

Rz. 78

Nicht nur Geschwindigkeiten sind anhand der Diagrammscheibe bestimmbar. Auch Verzögerungen und Beschleunigungen lassen sich nachvollziehen. Es ist dabei allerdings zu berücksichtigen, dass, bedingt durch Ungenauigkeiten im Weg- und Zeitaufschrieb, Beschleunigungs-, Anfahr- und Bremsvorgänge immer nur unter bestimmten Toleranzen zu rekonstruieren sind.

 

Rz. 79

Bei neueren Fahrzeugen ab Baujahr 2006 ist es so, dass nur noch digitale Tachographen eingesetzt werden, die nicht über einen Papieraufschrieb verfügen. Erschütterungen auf das Fahrzeug, wie sie über die Schreibernadel registriert werden, werden nicht registriert. Trotzdem sind auch diese Daten hinsichtlich der Geschwindigkeiten und Zeiten auswertbar.

 

Rz. 80

Problem bei der Auswertung, ob nun digital oder analog, ist allerdings die Zuordnung der Uhrzeit. Beim analogen Gerät ist es möglich, die Uhrzeit manuell zu verstellen. Somit können Abweichungen hinsichtlich der Unfallzeit und der dokumentierten Zeit entstehen.

Der digitale Tachograph wird auf die UTC-Zeit (universal time coordinated) programmiert und kann innerhalb eines Zeitraumes von 7 Tagen manuell um 1 Minute verstellt werden. Nur mit einer Werkstattkarte ist die genaue Zeiteinstellung möglich. Hierüber kann die Zeit auch angeglichen werden. Die UTC-Zeit entspricht der Zeitzone "0" auf der in 24 Zonen (- 12 bis + 12) aufgeteilten Weltkugel. Diese Zone gilt für die Staaten Großbritannien, Portugal, Irland und Island.

Für die Staaten Österreich, Deutschland, Dänemark, Belgien etc. gilt ein Zeitzonen-Offset von + 1 Stunde; bei Winterzeit sogar + 2 Stunden.

Da die Uhrzeit im digitalen EG-Kontrollgerät nicht über größere Zeitverläufe manuell verstellt werden kann, ist hier eine höhere Genauigkeit und auch Sicherheit gewährleistet.

Beim analogen Gerät ist anzuraten, die Uhrzeit bei Sicherstellung der Diagrammscheibe mit der Unfallzeit abzugleichen, wodurch eine genauere Zuordnung für den Sachverständigen möglich wird.

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