Rz. 258

Für die Praxis von besonderer Bedeutung ist § 15 Nr. 6 AFB 87 bzw. A § 10 Nr. 5 AFB 2010. Danach sind die Feststellungen der Sachverständigen oder des Obmanns für Versicherer und Versicherungsnehmer verbindlich, wenn nicht nachgewiesen wird, dass sie offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich abweichen. Geringfügige Abweichungen berechtigen nicht dazu, das Ergebnis des Sachverständigenverfahrens als unverbindlich zu betrachten. Andernfalls hätte das Verfahren keinen praktischen Wert. Schließlich dient das Sachverständigenverfahren dazu, streitige Fragen möglichst kurzfristig und mit verhältnismäßig geringem zeitlichem Aufwand und ohne ein möglicherweise langes und kostspieliges Prozessverfahren zu klären.

 

Rz. 259

Eine Abweichung ist nur dann "erheblich", wenn sie sich auf das Gesamtergebnis des Gutachtens auswirkt.[277] Die Erheblichkeit einer Abweichung lässt sich grundsätzlich nicht an prozentualen Sätzen festmachen. Dennoch vertritt der BGH[278] die Auffassung, dass der Tatrichter im Interesse der weitgehenden Gleichbehandlung der Versicherungsnehmer von einem Prozentsatz als "Richtschnur" ausgehen kann. Eine Abweichung um weniger als 10 % vom geforderten Betrag ist unerheblich und eine Abweichung von mehr als 20 % erheblich.[279]

 

Rz. 260

Eine "erhebliche" Abweichung muss darüber hinaus "offenbar" sein, um zur Unverbindlichkeit des Gutachtens zu führen. Offenbar ist die erhebliche Abweichung von der wahren Sachlage nicht schon dann, wenn der Sachverständige die in Rede stehende Frage objektiv fehlerhaft beurteilt hat, sondern erst dann, wenn sich die Unrichtigkeit einem Sachkundigen aufdrängt.[280] Abweichende Meinungen anderer Sachverständiger genügen also nicht.[281] Offenbare Fehler sind beispielsweise:[282]

falsche Berechnungsgrundlagen,[283]
falsche Auslegung von Versicherungsbedingungen,[284]
unterlassene Ausnutzung von vorhandenen Erkenntnisquellen,[285]
verfrühte Erstattung des Gutachtens, wenn der Schaden noch nicht feststeht.[286]
 

Rz. 261

Ein Gutachten ist auch dann unverbindlich, wenn es die formellen Voraussetzungen des § 15 Nr. 3 AFB 87/A § 10 AFB 2008 oder § 84 VVG nicht erfüllt.[287] Dann liegt kein "Gutachten" vor. Dies gilt auch, wenn die Zuständigkeit des Sachverständigen fehlt[288] (z.B. Befragung im Kern zur ­Ursächlichkeit) oder für andere Mängel im Sachverständigenverfahren.[289] Ob das Gutachten darüber hinaus erheblich und offenbar von der tatsächlichen Sachlage abweicht, braucht dann nicht mehr entschieden zu werden.

[277] OLG Celle v. 13.12.2012 – 8 U 128/12, r+s 2014, 173 ff.; BGH v. 1.4.1987 – IVa 139/85, VersR 1987, 601, 602; LG Berlin VersR 1979, 365; Langheid/Wandt/Hallbach, § 84 Rn 21.
[278] BGH v. 1.4.1987 – IVa 139/85, VersR 1987, 601.
[279] Prölss/Martin/Voit, § 84 Rn 26 m.w.N.; Langheid/Wandt/Hallbach, § 84 Rn 26; OLG Celle v. 13.12.2012 – 8 U 128/12, r+s 2014, 173 ff.
[280] Prölss/Martin/Voit, § 84 VVG Rn 28; OLG Düsseldorf v. 17.3.2009 – 4 U 181/08, r+s 2010, 108; OLG Koblenz VersR 1997, 963; OGH VersR 2005, 859; BGH VersR 1979, 174.
[281] Boldt, S. 166 "Sachverständigen-Verfahren"; Langheid/Wandt/Hallbach, § 84 Rn 22.
[282] Langheid/Wandt/Hallbach, § 84 Rn 25.
[283] Boldt, S. 166 "Sachverständigen-Verfahren".
[284] BGHZ 9, 195.
[285] BGH VersR 1978, 121, 124.
[286] OLG Oldenburg VersR 1994, 146.
[287] Langheid/Rixecker/Langheid, § 84 Rn 30; BGH VersR 1989, 910.
[288] Langheid/Rixecker/Langheid, § 84 Rn 31.
[289] Langheid/Rixecker/Langheid, § 84 Rn 33.

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