A. Typischer Sachverhalt

 

Rz. 1

E ist Eigentümer eines landwirtschaftlichen Hallengebäudes, das zu Lagerzwecken genutzt wird; einzelne Teilflächen werden von Mietern genutzt. Nach einem Brand in der Halle, der von dem durch den Mieter M auf dessen Mietfläche eingelagerten Heu ausgegangen ist, begehrt E von dem Mieter M Schadenersatz wegen Gebäudeschäden, Mietausfall etc. nebst Zinsen und ferner die Feststellung der Schadenersatzpflicht für alle darüber hinausgehenden materiellen Schäden.

Die Klage wurde in den zivilgerichtlichen Fachinstanzen im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, dass der beklagte Mieter M die erforderliche Sorgfalt habe walten lassen und deshalb nicht nachgewiesen sei, dass es durch eine unsachgemäße Handhabung durch M zu einer Selbstentzündung des Heus gekommen sei.

E kann diese Entscheidung nicht nachvollziehen, da in einem anderen, rechtskräftig gewordenen zivilgerichtlichen Klageverfahren eines seiner weiteren Mieter X gegen M dem anderen Kläger X Schadenersatz für den Verlust diverser Gegenstände, die durch den Brand beschädigt bzw. zerstört wurden, zugesprochen wurde. Das dortige Zivilgericht beurteilte dabei die Sach- und Rechtslage zugunsten des Anspruchs des anderen Klägers X und bejahte eine Verantwortung des M für die Selbstentzündung des Heus. Deshalb möchte E Verfassungsbeschwerde erheben.

B. Allgemeines

I. Rechtliche Grundlagen

1. Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht

 

Rz. 2

Jeder Grundrechtsträger kann vor dem Bundesverfassungsgericht eine Individualverfassungsbeschwerde erheben, Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG. Die Verfassungsbeschwerde muss die Behauptung des Beschwerdeführers enthalten, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner Rechte aus Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 GG verletzt zu sein. Ein Prozessvergleich stellt allerdings keinen solchen Akt öffentlicher Gewalt dar.[1] Schiedsgerichte aufgrund einer privatrechtlichen Schiedsvereinbarung sind gleichfalls nicht als Träger öffentlicher Gewalt tätig.[2] Auch Mitteilungen der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder und deren Satzungsbestimmungen sind keine Akte öffentlicher Gewalt, da die Versicherungsverhältnisse der dort versicherten Arbeitnehmer und der Versorgungsanstalt dem Privatrecht zugeordnet sind.[3] Ferner kann die Ablehnung eines Gnadenersuchens nicht mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden, da ein Recht auf einen Gnadenerweis nicht besteht.[4] Zur Durchführung des Verfahrens ist nur der Rechtsinhaber selbst befugt;[5] eine Ausnahme ist allenfalls dann denkbar, wenn der materiell Berechtigte sich zur Wahrnehmung seiner Rechte aufgrund gesetzlicher Vorschriften eines Dritten bedienen muss (!), z.B. bei urheberrechtlichen Vergütungsansprüchen.[6]

Nicht statthaft ist eine Verfassungsbeschwerde von aktiven Abgeordneten in allen Fragen, die ihren Abgeordnetenstatus betreffen, selbst wenn zusätzlich eine Grundrechtsverletzung gerügt wird; sie sind dann auf den Weg des Organstreits nach Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG verwiesen. In einem solchen Streit steht der Abgeordnete dem Staat nicht als "Jedermann" gegenüber, der sich gegen eine Verletzung des grundrechtlich gesicherten Bereichs wehrt.[7]

Wird die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, entscheidet das Bundesverfassungsgericht i.d.R. ohne mündliche Verhandlung, § 94 Abs. 5 S. 2 BVerfGG. Verfassungsbeschwerdeverfahren dauern in der Regel mehrere Jahre, die Prüfung der Annahmevoraussetzungen mehrere Monate. Der EGMR hat mehrfach die überlange Verfahrensdauer einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht als Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 MRK angesehen.[8] Inzwischen gibt es eine Verzögerungsbeschwerde, §§ 97a ff. BVerfGG. Zunächst muss eine Verzögerungsrüge erhoben werden, § 97b BVerfGG. Im Rahmen der Verzögerungsbeschwerde muss zur Unangemessenheit der Verfahrensdauer vorgetragen werden; dabei ist auf die seit Einlegung der Verzögerungsrüge eingetretenen verfahrenserheblichen Umstände einzugehen.[9]

 

Rz. 3

Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine fachgerichtliche oder behördliche Entscheidung stattgegeben, stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass der Beschwerdeführer in seinen entsprechenden Grundrechten verletzt ist, hebt die Entscheidung auf und verweist bei gerichtlichen Entscheidungen die Sache an das zuständige Gericht zurück, § 95 Abs. 2 BVerfGG. Bei teilweise stattgebenden fachgerichtlichen Entscheidungen geschieht dies, "soweit das angegriffene Urteil seine Klage abgewiesen hat"; ggf. ist das Begehren des Beschwerdeführers entsprechend auszulegen.[10] Bei einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz oder sofern die aufgehobene Entscheidung auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht, ist das Gesetz für nichtig zu erklären, § 95 Abs. 3 BVerfGG.

[1] BVerfG v. 26.10.2006, 1 BvR 2591/06.
[2] BVerfG v. 8.10.2006, 1 BvR 2505/06.
[3] BVerfG v. 17.5.2006, 1 BvR 1014/06.
[4] BVerfG v. 26.10.2006, 2 BvR 1587/06.
[5] BVerfGE 31, 275/280; BVerfGE 25, 256/263.
[6] BVerfGE 77, 263/268 ff.; vgl. BVerfGE 79, 1/19.
[8] Z.B. EGMR v. 13.1.2011...

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