Rz. 4

Geeignet ist ein Arbeitskampfmittel, wenn durch seinen Einsatz die Durchsetzung des Kampfzieles gefördert werden kann. Dabei ist von einer Einschätzungsprärogative der den Arbeitskampf führenden Koalitionen auszugehen. Diese haben einen Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Frage, ob eine Arbeitskampfmaßnahme geeignet ist, Druck auf den sozialen Gegenspieler auszuüben. Dies ist Teil der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Freiheit in der Wahl der Arbeitskampfmittel. Die Rspr. folgert hieraus nicht nur, dass die Freiheit besteht, welches Kampfmittel eingesetzt wird, sondern dass zugleich von der Freiheit auszugehen ist, wem ggü. dies geschieht (BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055). Nur wenn das Arbeitskampfmittel zur Erreichung des zulässigen Kampfzieles offensichtlich ungeeignet ist, kann eine Arbeitskampfmaßnahme aus diesem Grund für rechtswidrig erachtet werden (BVerfG v. 10.9.2004, AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 167, zu B II 2b der Gründe; BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055).

 

Rz. 5

Erforderlich ist ein Kampfmittel, wenn mildere Mittel zur Erreichung des angestrebten Zieles nach der Beurteilung der den Arbeitskampf führenden Koalition nicht zur Verfügung stehen. Auch insoweit existiert eine Einschätzungsprärogative der Koalition, ob sie zur Erreichung des verfolgten Zieles das gewählte Mittel für erforderlich oder andere Mittel für ausreichend erachtet (BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055). Der als allgemein zivilrechtlich definierte Rechtsmissbrauch bildet auch hier die Grenze. Dies wäre anzunehmen, wenn das ergriffene Kampfmittel zur Erreichung des Zieles offensichtlich nicht zum Einsatz kommen muss.

 

Rz. 6

Verhältnismäßig ist der Einsatz von Arbeitskampfmitteln dann, wenn er sich unter hinreichender Würdigung der grundrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit zur Erreichung des angestrebten Kampfzieles unter Berücksichtigung der Rechtspositionen der von der Kampfmaßnahme unmittelbar oder mittelbar Betroffenen als angemessen darstellt. Insoweit steht einer Arbeitskampfpartei keine Einschätzungsprärogative zu, es geht nämlich hierbei nicht um eine tatsächliche Einschätzung, sondern um einen rechtlichen Abwägungsvorgang. Dabei ist immer zu beachten, dass es gerade Zweck einer Arbeitskampfmaßnahme ist, durch Zufügung wirtschaftlicher Nachteile Druck zur Erreichung eines legitimen Zieles auszuüben. Unverhältnismäßig ist ein Arbeitskampfmittel erst, wenn es sich auch unter Berücksichtigung dieses Zusammenhanges als unangemessene Beeinträchtigung gegenläufiger, ebenfalls verfassungsrechtlich geschützter Rechtspositionen darstellt (BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055). Streiks um den Abschluss von sog. Sozialtarifverträgen verstoßen deshalb nicht unter dem Gesichtspunkt fehlender Erforderlichkeit gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Annahme, es fehle an der Erforderlichkeit, weil die Rechtsordnung mit den Regelungen der §§ 111 ff. BetrVG ein friedliches und weniger belastendes Verfahren bereithalte, um zu einem Nachteilsausgleich für die Arbeitnehmer zu gelangen, ist mit der durch Art. 9 Abs. 3 GG garantierten Tarifautonomie nicht zu vereinbaren (BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, DB 2007, 1924).

 

Rz. 7

Nachdem das BAG im Jahr 2010 seine Rechtsprechung zur Tarifeinheit im Betrieb aufgegeben hat, regelt das Tarifeinheitsgesetz vom 10.7.2015 mit § 4a TVG, wie Konflikte zwischen der Geltung mehrerer Tarifverträge innerhalb eines Betriebs aufzulösen sind. Es sieht vor, dass der Tarifvertrag der jeweiligen Gewerkschaft verdrängt wird, die weniger Mitglieder im Betrieb hat. In einem gerichtlichen Beschlussverfahren soll diese Mehrheit festgestellt werden. Der Arbeitgeber muss die Aufnahme von Tarifverhandlungen mit einer Gewerkschaft den anderen tarifzuständigen Gewerkschaften bekanntgeben und muss sich deren tarifpolitische Forderungen anhören. Die Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hat einen Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrages. Nach der Gesetzesbegründung wäre der Streik um einen nicht zur Anwendung kommenden, verdrängten Tarifvertrag – je nach den Umständen des Einzelfalls – unverhältnismäßig (BT-Drucks 18/4062, 12).

 

Rz. 8

Umso bedeutsamer ist die Entscheidung des BVerfG hierzu (BVerfG v. 11.7.2017 – 1 BvR 1571/15; 1 BvR 1588/15; 1 BvR 2883/15; 1 BvR 1043/16; 1 BvR 1477/16). Einen Einfluss des Tarifeinheitsgesetzes auf das Verhältnis von Druck und Gegendruck im Verhältnis zum tariflichen Gegenspieler erkennt das Gericht nicht. Das Streikrecht soll nach der Begründung des BVerfG unangetastet bleiben. Auch ein Haftungsrisiko habe eine Gewerkschaft bei Arbeitskampfmaßnahmen weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen. Die Arbeitsgerichte haben durch eine verfassungskonforme Anwendung der Haftungsregeln sicher zu stellen, dass kein Haftungsrisiko aus einem Streik um einen Tarifvertrag entsteht, der später verdrängt wird (BVerfG, a.a.O, Rn 140). Hatten einige Gruppierungen gehofft, das Tarifeinheitsgesetz...

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