Rz. 1

Sämtliche Arbeitskampfmaßnahmen, sei es Streik oder Aussperrung, stehen unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit. Durch die Ausübung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Betätigungsfreiheit kommt es regelmäßig dazu, dass in die ebenfalls verfassungsrechtlich gewährleistete Rechtsposition des Kampfgegners unmittelbar eingegriffen wird. Dies veranlasst die Rspr. zu einer Abwägung der kollidierenden Rechtspositionen. So gesehen kommt es zu einem Abwägungspostulat der Verhältnismäßigkeit, was zu einer Würdigung führt, ob ein Kampfmittel zur Erreichung eines rechtmäßigen Kampfzieles geeignet und erforderlich und bezogen auf das Kampfziel angemessen, damit proportional eingesetzt worden ist (BAG GS v. 21.4.1971, AuR 1971, 353; BAG v. 10.12.2002 – 1 AZR 96/02, NZA 2003, 734; BAG v. 24.4.2007 – 1 AZR 252/06, DB 2007, 1924; BVerfG v. 26.6.1991, AuR 1992, 29; Kissel, Arbeitskampfrecht, § 29). Davon abzugrenzen ist die Kontrolle der Tarif- und Streikziele. Diese können nicht dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unterstellt werden. Deswegen führt das BVerfG zutreffend aus, dass bei einer Verhältnismäßigkeitsprüfung, die schon bei den Arbeitskampfmitteln ansetzt, eine gerichtliche Kontrolle der Tarifziele kaum zu vermeiden ist. Eine solche Kontrolle widerspricht aber dem Grundgedanken der Tarifautonomie (BVerfG v. 26.6.1991 – 1 BvR 779/85, AuR 1992, 29).

 

Rz. 2

Nach Ansicht des BAG steht der in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes liegenden Beschränkung des Streikrechtes dessen Garantie in Teil II Art. 6 Nr. 4 ESC nicht entgegen. Eine solche Beschränkung sei die gesetzesvertretende Ausgestaltung des Arbeitskampfrechtes durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (BAG v. 10.12.2002, NZA 2003, 743; BAG v. 24.4.2007, DB 2007, 1924). Dabei gesteht das BAG den Gewerkschaften eine Einschätzungsprärogative, also einen Beurteilungsspielraum in Bezug auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit des Streiks zu (BAG v. 19.6.2007 – 1 AZR 396/06, NZA 2007, 1055). Es besteht aber weiterhin die Gefahr, dass unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das Streikrecht eingeschränkt oder gar unterbunden werden kann. Gleichzeitig ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip das BAG vor allem die Aussperrung eingeschränkt hat (kritisch zum Einsatz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Grundlage einer Einschätzungsprärogative der Gewerkschaften, Otto, RdA 2010, 135, 137 ff.).

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