Rz. 316

Der Strafverteidiger gerät oftmals in Situationen, in denen das Gericht während der Hauptverhandlung auf einen ursprünglich erwarteten Zeugen nicht zurückgreifen kann oder in denen Zeugen bei ihrer Aussage hinsichtlich ihres genauen Inhalts unsicher werden und deshalb die Vernehmungsprotokolle – sei es auch nur auszugsweise – zum Zwecke des Urkundenbeweises verlesen werden sollen. Hier muss der Verteidiger wachsam auf die Einhaltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes bestehen. Dies setzt nicht nur voraus, dass ihm die gesetzliche Systematik bezüglich der Verlesung von Vernehmungsprotokollen bekannt ist, sondern auch dass er deren Ausgestaltung durch die Rechtsprechung verinnerlicht hat. An dieser Stelle kann im Rahmen der Darstellung nur versucht werden, die bestehende Struktur der Verlesungsrechte und -verbote aufzuzeigen. Es empfiehlt sich, im Rahmen der §§ 249 ff. StPO in Regel-Ausnahme-Kategorien zu denken und auf diese Weise zu versuchen, die gesetzliche Systematik in den Griff zu bekommen. Dabei soll der folgende Überblick helfen:[150]

 

Rz. 317

 
Grundsatz:
§ 249 Abs. 1 StPO: Verlesung von Urkunden in der Hauptverhandlung
  Ausnahme:
  § 249 Abs. 2 StPO: Absehen von der Verlesung bei tatsächlicher Kenntnisnahme durch das Gericht und Möglichkeit der Zurkenntnisnahme durch die anderen Beteiligten
  § 250 S. 1 StPO: Vorrang des Personal- vor dem Urkundenbeweis
  § 250 S. 2 StPO: Verbot des Beweismittelsurrogates
    Ausnahmen:
    § 251 Abs. 1 Nr. 1–3 StPO: Verlesung richterlicher oder nichtrichterlicher Protokolle
    § 251 Abs. 2 Nr. 1–3 StPO: Verlesung richterlicher Protokolle
    § 251 Abs. 3 StPO: Urkunden, die nicht unmittelbar der Urteilsfindung dienen
    § 253 StPO: Verlesung zur Gedächtnishilfe
    § 254 Abs. 1 StPO: Verlesung eines Geständnisses des Angeklagten bei einer früheren richterlichen Vernehmung bzw. Vorführung einer entsprechenden Bild-Ton-Aufzeichnung
    § 254 Abs. 2 StPO: Verlesung eines Protokolls über eine frühere richterliche Vernehmung des Angeklagten bei Widersprüchen bzw. Vorführung einer entsprechenden Bild-Ton-Aufzeichnung
    § 256 StPO: Behörden-, Sachverständigen- sowie Ärzteerklärungen u.Ä.
    § 420 Abs. 1, 2 StPO: Beweisaufnahme im beschleunigten Verfahren
      Ausnahme:
      § 252 StPO: Geltendmachung eines Zeugnisverweigerungsrechts
        Ausnahme: Nach h.M. ist unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere der ordnungsgemäßen Belehrung nach § 52 Abs. 3 S. 1 StPO, zwar nicht die Verlesung des Protokolls, sehr wohl aber die Vernehmung der richterlichen Verhörsperson möglich.[151]
 

Rz. 318

Der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO gilt nur im Strengbeweisverfahren, wie sich aus dem Umkehrschluss des § 251 Abs. 3 StPO zwingend ergibt. Die Durchbrechung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes kann vom Gericht nur auf die genannten Ausnahmetatbestände gestützt werden. Der Vorrang des Personalbeweises bedeutet in der Regel nicht, dass Beweismittelsurrogate nicht ergänzend herangezogen werden könnten. Nach h.M. schließt § 250 StPO auch die Vernehmung von Zeugen vom Hörensagen, wie etwa einer Verhörperson, nicht aus. Wichtige Zeugenaussagen, selbst wenn sie für den Mandanten günstig sind, sollten nicht ohne Not verlesen werden. Die persönliche Aussage eines entlastenden Zeugen ist nämlich – gerade auch mit Blick auf die Schöffen – wesentlich anschaulicher und damit wirkungsvoller als die u.U. langatmige Verlesung durch den Vorsitzenden.

[150] Die Skizze ist wie folgt zu verstehen: Der Grundsatz kennt eine Ausnahme. Die Ausnahme kennt eine Ausnahme und die Ausnahme der Ausnahme kennt erneut eine Ausnahme usw. Dies bedeutet, dass die Ausnahme der Ausnahme inhaltlich dem Grundsatz entspricht.
[151] Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, § 252 StPO Rn 13 ff.

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