Rz. 49

Für deutsche Unternehmen sind bei der strategischen Entscheidung, grenzüberschreitend mobil zu werden vor allem wirtschaftliche Motive[111] von Bedeutung.[112] Eine 2013 von der Europäischen Kommission durchgeführte Konsultation zur grenzüberschreitenden Sitzverlegung[113] hat gezeigt, dass etwa ein Viertel der befragten Unternehmen aufgrund eines besseren Geschäftsklimas ihren Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen. Steuerliche Beweggründe gaben 45 % der Befragten an.[114] Ebenso können Unterschiede in der Wirtschaftsregulierung den Ausschlag für die positive Entscheidung über eine Sitzverlegung in einen anderen Mitgliedstaat geben, wie etwa 15 % der Teilnehmer der Befragung angaben. Das unter dem Begriff "Insolvenztourismus"[115] geläufige Phänomen eines günstigeren Insolvenzrechts im Zuzugsstaat spielt offenbar ebenfalls eine Rolle. 10 % der Konsultationsteilnehmer bestätigten dies.[116] Der grenzüberschreitende Formwechsel ist für ein operativ im Zuzugsstaat tätiges Unternehmen zudem aufgrund der Identität des Rechtsträgers attraktiv. Auch wenn die Gründungsvorschriften des Zuzugsstaates einzuhalten sind, wird eine aufwändige vollständige Neugründung vermieden.[117] Dennoch genießt dann der neue Rechtsträger im Zielstaat das höhere Vertrauen des Wirtschaftsverkehrs in eine für ihn "einheimischen" Rechtsform.[118] Da allerdings Konzerne für diesen Effekt der gesteigerten Akzeptanz im jeweiligen Tätigkeitsstaat häufig ohnehin eine einheimische Tochtergesellschaft gründen[119] und große Kapitalgesellschaften, namentlich Aktiengesellschaften, mittels einer Societas Europaea (SE) im gesamten Binnenmarkt tätig sein können, ist der grenzüberschreitende Formwechsel besonders für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) interessant, die europäische Auslandsmärkte erschließen wollen. Auch die relativ geringen Kosten für den grenzüberschreitenden Formwechsel von zumeist zwischen 10.000 und 50.000 EUR stellen keine allzu große Hürde für KMU dar.[120] Es verwundert daher nicht, dass die Fälle zum grenzüberschreitenden Formwechsel, mit welchen sich die deutsche Rechtsprechung bisher befassen durfte, jeweils die GmbH bzw. deren ausländische Äquivalente betrafen (dazu Rdn 76 ff.).

[111] Zu den Motiven für einen grenzüberschreitenden Formwechsel ausführlich Knaier/Pfleger, GmbHR 2017, 859, 859 f.; Behme, in: MünchHdbGesR VIII, § 39 Rn 3 ff.; zu auch rechtsmissbräuchlichen Beweggründen Kindler, in: MüKo-BGB, Bd. 13, IntGesR, Rn 818 m.w.N.
[112] Siehe ausführlich zu den Beweggründen eines grenzüberschreitenden Formwechsels Frank, Formwechsel im Binnenmarkt, 2016, S. 43 ff.; Stiegler, Grenzüberschreitende Sitzverlegungen nach deutschem und europäischem Recht, 2017, S. 56 ff.; siehe auch Hushahn, RNotZ 2014, 137, 138.
[113] Summary of responses to the Public Consultation on Cross-border transfers of registered offices of companies, September 2013, S. 11, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/consultations/2013/seat-transfer/docs/summary-of-responses_en.pdf (Stand: 1.5.2021).
[114] Bei einer als Alternative denkbaren grenzüberschreitenden Verschmelzung fällt möglicherweise Grunderwerbssteuer an. Außerdem gehen etwaige Verlustvorträge unter, Bohnhardt, in: Haritz/Menner/Bilitewski, UmwStG, § 4 Rn 200 ff. und Wisniewski, in: Haritz/Menner/Bilitewski, UmwStG § 12 Rn 99 ff.
[115] Dazu Goslar, NZI 2012, 912 ff.; Hergenröder, DZWiR 2009, 309 ff.; Kindler, KTS 2014, 25, 33.
[116] Summary of responses to the Public Consultation on Cross-border transfers of registered offices of companies, September 2013, S. 12, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/consultations/2013/seat-transfer/docs/summary-of-responses_en.pdf (Stand: 1.5.2021); diesem Phänomen sollte jedoch mit der Novellierung der EUInsVO entgegengetreten werden, vgl. VO (EU) 2015/848 v. 20.5.2015, ABl v. 5.6.2015, L 141/19, Erwägungsgründe 5, 29 u. 31, die im Wesentlichen ab dem 26.6.2017 gilt; s. zu den Einschränkungen durch den neuen Art. 3 Abs. 1 EUInsVO in diesem Kontext auch Stiegler, Grenzüberschreitende Sitzverlegungen nach deutschem und europäischem Recht, 2017, S. 62 f.
[117] So auch Frank, Formwechsel im Binnenmarkt, 2016, S. 53 f., m.w.N.
[118] Frank, Formwechsel im Binnenmarkt, 2016, S. 53 f.
[119] Vgl. Hommelhoff, ZGR 2012, 535, 536 f., m.w.N.
[120] Vgl. Summary of responses to the Public Consultation on Cross-border transfers of registered offices of companies, September 2013, S. 13, abrufbar unter http://ec.europa.eu/internal_market/consultations/2013/seat-transfer/docs/summary-of-responses_en.pdf (Stand: 1.5.2021).

I. Materielles nationales Gesellschaftsrecht

 

Rz. 50

Das deutsche Gesellschaftsrecht verlangt, dass der Satzungssitz im Inland liegt (§ 4a GmbHG), und verknüpft damit den Registersitz, indem das Handelsregister am Sitz der Gesellschaft für zuständig erklärt wird (§ 7 Abs. 1 GmbHG). Rechtsordnungen, die allein auf den Registersitz abstellen, verlangen üblicherweise einen inländischen Registersitz.[121]

 

Rz. 51

Die Verlegung des Satzungssitzes ins Ausland ist nach deutschem ...

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