Rz. 4

Die im Straßenverkehr wohl häufigste Unfallsituation ist diejenige, dass an dem Unfall (zumindest) zwei Kraftfahrzeuge beteiligt sind. In diesem Fall hängt die Ersatzpflicht der jeweiligen Kraftfahrzeugführer und -halter gem. § 17 Abs. 1 StVG im Verhältnis untereinander von den Umständen des Falles ab. Dies gilt sowohl in dem Fall, dass der Schaden bei einem Dritten entstanden ist (§ 17 Abs. 1 StVG), als auch in den Fällen, in denen die Schäden allein an den beteiligten Kraftfahrzeugen verursacht worden sind (§ 17 Abs. 2 StVG).

 

Rz. 5

Ansprüche von oder gegen den Dritten im sog. Außenverhältnis fallen nicht unter diese Vorschrift. Der Dritte kann bei Beteiligung mehrerer Fahrzeuge gegen jeden Fahrzeughalter einen Anspruch in voller Höhe des insgesamt zu ersetzenden Schadens geltend machen, sofern dem Grunde und der Höhe nach eine Haftung nach § 7 StVG besteht. Die betroffenen Fahrzeughalter haften insoweit im Außenverhältnis als Gesamtschuldner. Dies gilt sowohl für die Halterhaftung nach § 7 Abs. 1 StVG wie auch die Fahrerhaftung nach § 18 Abs. 1 und 2 StVG.

 

Rz. 6

Bei der Abwägung der Umstände nach § 17 Abs. 1 StVG kommt es in erster Linie auf die (verschuldensunabhängigen) Verursachungsbeiträge an. Daneben ist auch das Verschulden eines Beteiligten zu berücksichtigen. Maßgeblich sind für die Frage der Verursachung bei zwei am Unfall beteiligten Kraftfahrzeugen die von diesen Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren. Von jedem Kraftfahrzeug, das sich in Betrieb und im öffentlichen Verkehrsraum befindet, geht eine Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer aus, die anhand der Umstände des Einzelfalles zu bestimmen ist. Aufgrund dieser Betriebsgefahr besteht grundsätzlich eine verschuldensunabhängige Haftung des Halters.

 

Rz. 7

Maßgeblich für die Einschätzung der jeweiligen Betriebsgefahr sind sämtliche durch die Eigenart des jeweiligen Kfz begründeten Umstände, die eine Gefahr in den Verkehr tragen.[1] Dies gilt allerdings nur, wenn sie sich unfallursächlich auswirken.[2] Die Betriebsgefahr jedes Fahrzeugs ist individuell zu beurteilen.

 

Rz. 8

Diese Haftung bei der Beteiligung zweier Kraftfahrzeuge lässt sich am besten durch das sog. Waagemodell erläutern.[3] Beide am Unfall beteiligten Kraftfahrzeuge weisen für sich gesehen eine Betriebsgefahr auf, die grundsätzlich als gleich hoch zu bewerten sind. Dies führt dazu, dass zu Lasten beider Fahrzeughalter/-führer grundsätzlich ein gleich großer Haftungsanteil besteht. Ein Kraftfahrzeugführer kann sich jedoch im Straßenverkehr so verhalten, dass er eine erhöhte Gefahr für andere Verkehrsteilnehmer schafft. Dies kann zu einem dadurch geschehen, dass er gegen Vorschriften der StVO verstößt, wie z.B. falsch überholt und dadurch andere Verkehrsteilnehmer gefährdet (vgl. § 5 Abs. 2 StVO), oder eine Vorfahrtsverletzung begeht (vgl. § 8 StVO). Maßgeblich ist das Verschulden des Fahrzeugführers – trotz Einschaltung eines Assistenzsystems – z.B. als Einparkhilfe – bleibt die Verantwortung für ein mögliches Verschulden nach geltendem Recht beim Fahrzeugführer.[4]

 

Rz. 9

Ein solcher Verstoß indiziert zugleich ein Missachten der gebotenen Sorgfalt und damit ein Verschulden. Unabhängig von einem solchen Verschulden kann eine erhöhte Betriebsgefahr aber bereits allein dadurch entstehen, dass (lediglich) ein besonders gefahrenträchtiges Verhalten an den Tag gelegt wird, wie z.B.

die unfallursächliche Fahrt mit mehr als 130 km/h auf der Autobahn (= Überschreiten der Richtgeschwindigkeit),[5]
das Ausscheren zu einem Überholen,[6]
das Abbiegen nach links über die Gegenfahrbahn.[7]
 

Rz. 10

Auch in einem zulässigen Verhalten eines Verkehrsteilnehmers kann daher eine Erhöhung der "einfachen" Betriebsgefahr liegen, ohne dass er dabei in schuldhafter Weise gegen die StVO verstößt.[8] Diese Überlegung ist mithin von besonderer Bedeutung in den Fällen, in denen ein schuldhaftes Verhalten – auch unter Berücksichtigung möglicher Anscheinsbeweise – nicht nachgewiesen werden kann. Alleine aufgrund eines vorgenommenen gefahrenträchtigen Manövers können bereits die Betriebsgefahr des betroffenen Fahrzeuges und damit der Haftungsanteil ansteigen. Ein klassisches Beispiel für eine möglicherweise erhöhte Betriebsgefahr stellt ein Überholvorgang dar: Dabei hängt es von den Umständen des Einzelfalles (z.B. dem Sicherheitsabstand, den betroffenen Örtlichkeiten bzw. der Fahrbahnbeschaffenheit und der gefahrenen Geschwindigkeit) ab, ob die allgemeine Betriebsgefahr unabhängig von einem Verschulden bereits als wesentlich erhöht anzusehen ist.[9] Auch bei der Einfahrt in eine Engstelle[10] oder der Anwendung des Reißverschlusssystems zum Umfahren eines Hindernisses auf einer Fahrspur[11] wird die Betriebsgefahr der beteiligten Fahrzeuge im Zweifel erhöht sein, ohne dass es dazu eines Verschuldens bedarf. Gleiches gilt bei dem ungebremsten Auffahren auf ein (überraschendes) Hindernis[12] oder dem Liegenbleiben des eigenen Fahrzeugs.[13]

 

Rz. 11

Muster 4.1: Erhöhte Betriebsgefahr

 

Muster 4.1: Erhöhte Betriebsg...

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