Rz. 174

Schwerbehinderte Arbeitnehmer sind besonders schutzbedürftig. Aus diesem Grund bedarf jede Kündigung der Zustimmung des Integrationsamtes.

Der Begriff der Schwerbehinderung ist in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG nicht eigenständig definiert. Er knüpft aber erkennbar an § 2 Abs. 2 und 3 SGB IX an.[311] Danach ist auch im Anwendungsbereich des § 1 Abs. 3 KSchG eine besondere Erschwernis auf dem Arbeitsmarkt für schwerbehinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 sowie für Gleichgestellte mit einem Grad der Behinderung von mindestens 30 gegeben und daher abwägungsrelevant.[312]

 

Rz. 175

Maßgeblich ist der Status zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung.[313] Hat der Arbeitnehmer den Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung bzw. auf Gleichstellung vor Ausspruch der Kündigung schon gestellt, dieser wird jedoch erst nach der Kündigung entschieden, hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, die Kündigung unter Beachtung der Sozialauswahl und der Ungewissheit, wie denn über den Antrag entschieden wird (die Feststellung der Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung wirkt rückwirkend auf den Tag der Antragstellung), auszusprechen. Stuft der Arbeitgeber den Arbeitnehmer bei der Sozialauswahl als schwerbehindert ein, aber der Antrag wird abgelehnt, ist die Sozialauswahl unzutreffend vorgenommen worden und die Kündigung möglicherweise aus diesem Grund unwirksam. Ebenso kann sich die nicht angenommene Schwerbehinderung als Fehleinschätzung erweisen. Dieses Risiko hat der Arbeitgeber zu tragen.[314]

Die Ansicht, dass bei unklarer Schwerbehinderung im Zeitpunkt des Kündigungsausspruchs, diese nach Ausspruch in Rahmen der Sozialauswahl nicht mehr berücksichtigt werden kann,[315] schränkt § 85 SGB IX unzutreffend ein.

 

Rz. 176

 

Hinweis

Die Praxis zeigt, dass einige anerkannt Schwerbehinderte oder gleichgestellte Menschen, die eine betriebsbedingte Kündigung – in der Umstrukturierung – erhalten, den Einfluss des für sie geltenden Sonderkündigungsschutzes bei dieser Art von Kündigungen überschätzen. Dem Interessenvertreter bleibt an dieser Stelle nichts anderes übrig, als eine Art Überbringer der schlechten Nachricht zu sein, dass dieser Sonderkündigungsschutz sie vor der Zustimmung des Integrationsamtes und anschließenden Kündigung des Arbeitgebers nicht bewahren wird.

Denn bei betriebsbedingten Kündigungen nimmt das Integrationsamt keine Überprüfung des betriebsbedingten Kündigungsgrundes oder der Sozialauswahl vor. Vielmehr wird es dem Antrag auf Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung nach Anhörung aller Beteiligten kurzfristig zustimmen, wenn die Behinderung augenscheinlich auf den Kündigungsgrund keinen Einfluss hat. Das Verfahren vor dem Integrationsamt verschafft dem Arbeitnehmer allenfalls die Ausschiebung des Kündigungsausspruchs und damit die Verlängerung des Arbeitsverhältnisses um die Zeit der Dauer dieses Verfahrens.

[311] APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 651.
[312] APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 651.
[313] HaKo/Mestwerdt/Zimmermann, § 1 Teil F KSchG Rn 870.
[314] HaKo/Mestwerdt/Zimmermann, § 1 Teil F KSchG Rn 870; APS/Kiel, § 1 KSchG Rn 652; Vgl. HWK/Quecke, § 1 KSchG Rn 379.
[315] KR/Griebeling/Rachor, § 1 KSchG Rn 742.

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