Rz. 94

Es kann schwierig zu beurteilen und streitig sein, ob alle Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen eines Beschlusses vorliegen. Manchmal steht sogar (mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit) von vornherein fest, dass ein Beschluss nicht rechtmäßig ausfallen kann; so etwa, wenn im obigen Beispiel (→ § 4 Rdn 86) in der Variante a (Gestattung der Gartenterrasse) der oder die benachteiligten Wohnungseigentümer nicht zustimmen. Es kann aber gute Gründe geben, trotz der fehlenden Zustimmungen den Beschluss zu fassen, z.B. weil die potentiell benachteiligten Wohnungseigentümer versehentlich oder aus Desinteresse der Versammlung fernblieben und nicht damit zu rechnen ist, dass sie den Beschluss beanstanden. Kann oder muss der Verwalter die Beschlussfassung in diesem Fall durchführen oder ablehnen? Früher wurde teilweise die Auffassung vertreten, der Versammlungsleiter dürfe das Zustandekommen eines Beschlusses nur bei dessen Rechtmäßigkeit feststellen. Das war und ist aber nicht richtig. Bei der Abstimmungsleitung ist der Verwalter Funktionsgehilfe der Eigentümerversammlung. Ob der Beschluss ordnungsmäßig ist oder nicht, hat im Streitfall das Gericht zu entscheiden – und nicht schon im Vorfeld der Verwalter, indem er die Verkündung (vermeintlich) anfechtbarer Beschlüsse verhindert. Es ist Sache der Eigentümer, ob sie innerhalb ihrer Beschlusskompetenz einen eventuell rechtswidrigen, aber gleichwohl wirksamen Beschluss zu fassen. Das gilt auch dann, wenn die Eigentümer oder Verwalter von der Rechtswidrigkeit des Beschlusses überzeugt sein sollten, wenn also ein Zitterbeschluss (zum Begriff (→ § 2 Rdn 44) gefasst werden soll. So sieht es inzwischen auch der BGH. In einer Grundsatzentscheidung urteilte der BGH, dass die Eigentümer das Risiko der Anfechtung bewusst eingehen dürfen. "Im Interesse der Rechtssicherheit nimmt es das Gesetz in Kauf, dass rechtswidrige Beschlüsse bestandskräftig werden können, und es mutet der überstimmten Minderheit zu, mittels Beschlussanfechtungsklage zeitnah aktiv zu werden".[117]

 

Rz. 95

Zum Schutz der Eigentümer muss der Verwalter diese aber vor der Beschlussfassung fundiert über die Sach- und Rechtslage und über die Konsequenzen ihres Handelns, insbesondere auf ein bestehendes Anfechtungsrisiko hinweisen.[118] Ob diese Hinweise später im Protokoll vermerkt werden (mit dem Risiko, dass dadurch eine Beschlussanfechtung überhaupt erst "provoziert" wird) oder nicht, ist Anschauungssache. Verstößt ein Verwalter gegen seine Hinweispflichten, macht er sich schadensersatzpflichtig. In schwierigen Fällen gesteht der BGH dem Verwalter allerdings eine Art Beurteilungsspielraum zu und bejaht ein Verschulden nur dann, wenn seine Einschätzung "offenkundig" falsch war.[119]

 

Rz. 96

Der Verwalter darf seine Mitwirkung an der Abstimmung nach alldem nicht verweigern. Die Versammlung kann ihn erforderlichenfalls per (Verfahrens-)Beschluss zur Durchführung der Beschlussfassung zwingen. Der Verwalter kann aber auch von sich aus einen entsprechenden Verfahrensbeschluss herbeiführen (→ § 7 Rdn 66), was ihm zur Vermeidung eines Haftungsrisikos zu empfehlen ist.

 

Rz. 97

Muster 4.8: Verfahrensbeschluss (Geschäftsordnungsbeschluss): Anweisung zur Beschlussfassung

 

Muster 4.8: Verfahrensbeschluss (Geschäftsordnungsbeschluss): Anweisung zur Beschlussfassung

Hinweise des Verwalters vor der Beschlussfassung:

Es besteht die Gefahr, dass ein Beschluss, der Herrn A die Errichtung einer Terrasse gestattet, wegen der fehlenden Zustimmung der Eigentümer B und D [oder, je nach Fall: wegen unzureichender Ankündigung usw.] anfechtbar ist. Wenn der Beschluss erfolgreich angefochten werden sollte, muss die Gemeinschaft die Prozesskosten tragen.

Antrag:

Der Verwalter wird angewiesen, über den Antrag des Herrn A zu TOP 6 (Zustimmung zum Bau einer Holzterrasse) abstimmen zu lassen. Wenn der Antrag eine Mehrheit findet, hat der Verwalter die positive Beschlussfassung festzustellen.

 

Rz. 98

Findet der Verfahrensbeschluss eine Mehrheit, muss der Verwalter anschließend entsprechend verfahren, die Abstimmung durchführen und ggf. den Gestattungsbeschluss verkünden. Sollte es später zu einer (erfolgreichen) Anfechtung des Beschlusses kommen, ist der Verwalter der Gemeinschaft für die Prozesskosten nicht ersatzpflichtig, denn er hat sich pflichtgemäß verhalten. Die Ausführung eines Beschlusses (hier: des Verfahrensbeschlusses) kann niemals ein Verschulden des Verwalters darstellen; ein Verschulden kann allenfalls vorliegen, wenn der Verwalter seinen Hinweispflichten im Vorfeld nicht ausreichend nachkam.

[117] BGH v. 29.5.2020 – V ZR 141/19, ZMR 2020, 770 mit Anm. Greiner, ZfIR 2020, 574.
[118] Ausführlich J.-H. Schmidt, Verkündung rechtswidriger Beschlüsse, ZWE 2016, 285, 393.

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