Rz. 245

Der Ausschluss greift nicht ein, wenn die psychische Reaktion auf organischen Schädigungen (z.B. Schädigungen des zentralen Nervensystems) beruht, auch wenn im Einzelfall das Ausmaß, in dem sich die organische Ursache auswirkt, von der psychischen Verarbeitung durch die VP abhängt.[308]

 

Rz. 246

 

Beispiel Tinnitus

Ein Polizeibeamter erleidet ein Knalltrauma und hat seitdem Ohrgeräusche (Tinnitus).[309] Diese führen zu dauerhaften Beeinträchtigungen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit (nach Maßgabe seines geschilderten Beschwerdebildes).[310]

Zur Ablehnung des Versicherungsschutzes wurde vorgetragen, der Tinnitus beziehe lediglich aus den psychischen Auswirkungen seinen Krankheitscharakter

 
Praxis-Beispiel

und bewirke nur insoweit eine Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Der individuell empfundene Belästigungscharakter sei ganz unterschiedlich, also rein subjektiv. Gegebenenfalls könne ein subjektiv als stark empfundener Belästigungscharakter des Tinnitus zu einer Dekompensation führen, was in diesem Zusammenhang nichts anderes bedeute, als eine psychische Reaktion.

Richtigerweise stellt sich der BGH gegen diese Argumentation. Der Sachverständige habe eindeutig festgestellt, dass der Tinnitus auf eine organische, durch den Unfall hervorgerufene Ursache zurückzuführen sei (knalltraumatische Schädigung der Haarzellen im Innenohr, welche zu Ohrgeräuschen führt). Darüber habe sich das Berufungsgericht hinweggesetzt, indem es allein auf eine Dekompensation des Tinnitus abstellte, ohne die organische Schädigung des Innenohrs zu berücksichtigen. Die Entscheidung stütze sich allein darauf, dass das vom Kläger geschilderte Beschwerdebild auf einer psychischen Fehlverarbeitung der Ohrgeräusche beruhe. Jedoch habe der Beklagte (der VR) den ihm obliegenden Nachweis nicht erbracht, dass der krankhafte Zustand des Klägers in einer psychischen Reaktion und nicht in einer organischen – wenngleich psychische Folgen auslösenden – Schädigung seine Ursache hat.

 

Rz. 247

Damit könnten die durch eine organische Schädigung vermittelten psychischen Folgen ohne jede Einschränkung vom Versicherungsschutz umfasst werden. Für hirnorganische Verletzungen bzw. Schädigungen des zentralen Nervensystems ist dies ohne weiteres einleuchtend. Von einer psychischen Reaktion bzw. Fehlbearbeitung kann in diesen Fällen von vornherein nicht gesprochen werden, da eine Kontrolle der VP nicht möglich ist,[311] sondern die psychischen Folgen quasi zwingend aus der hirnorganischen Verletzung bzw. Schädigung des zentralen Nervensystems resultieren. Aber auch andere körperliche Verletzungen können psychische Beeinträchtigungen hervorrufen und häufig ist der Kausalzusammenhang mit der Unfallverletzung unzweifelhaft. In diesen Fällen ist weiter zu differenzieren: Wenn die psychische Störung mit ihrer psychogenen Natur im Sinne einer Fehlverarbeitung erklärt werden kann, sie also krankhaft ist, besteht nach dem BGH kein Versicherungsschutz. Dabei darf aber der Schluss auf eine krankhafte Fehlverarbeitung nicht unberücksichtigt lassen, dass Unfallfolgen individuell unterschiedlich verarbeitet werden.

 

Rz. 248

Um die sich aus dieser Sichtweise ergebende latente Gefahr von Ausnutzungstendenzen bei den nur schwer objektivierbaren psychischen Krankheitsbildern entgegenzuwirken, soll nach dem BGH die Leistungspflicht des VR auf die Fälle reduziert werden, die als typische und regelmäßige Folge einer organischen Verletzung anzusehen sind.[312]

 

Rz. 249

 

Beispiel Depression

In einem Fall des OLG Karlsruhe führte eine Hüftfraktur zur Einschränkung der Mobilität der VP. Daraus wiederum erwuchs eine schwere Depression. Das OLG sah die Depression als mittelbare Folge der körperlichen Verletzung an und entschied, dass die Depression nicht als psychische Reaktion ausgeschlossen sei. Die Depression beruhe auf der körperlichen Primärverletzung und deren Folgen, insbesondere der damit verbundenen Immobilität, ohne dass sich insoweit eine psychische Fehlverarbeitung feststellen lasse. Der VR sollte leisten. Das Urteil wurde aus anderen Gründen vom BGH aufgehoben.[313] Diese Sicht des OLG Karlsruhe ist nach dem oben Gesagten abzulehnen. Die psychische Folge ist nicht zwingend auf den organischen Schaden zurückzuführen. Die schwere Depression ist auch keine typische und regelmäßige Folge einer unfallbedingt eingeschränkten Mobilität. Die psychische Verarbeitung einer Gesundheitsschädigung im Sinne eines rein psychogenen Vorgangs soll gerade ausgeschlossen sein.

 

Rz. 250

Problematisch bleibt bei Konstellationen mit organischen Schädigungen, die nicht als Nerven- oder Hirnschäden direkt die psychische Symptomatik auslösen, ob bzw. inwieweit der Ausschluss der psychischen Reaktion eingreift. Einerseits wird vertreten, dass jegliche, nicht physisch begründete psychische Beeinträchtigung vom Versicherungsschutz ausgeschlossen ist.[314] Nach anderer Ansicht soll der Ausschluss dann nicht eingreifen, wenn die psychische Erkrankung in Anbetracht ...

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