Rz. 1

2020 wurden in der Bundesrepublik 332.407 Klagen vor den Arbeitsgerichten eingereicht, gleichzeitig wurden 198.766 Kündigungsschutzklagen erledigt. Damit waren etwa 59 % aller von den Arbeitsgerichten erledigten Urteilsverfahren Kündigungsschutzklagen. Im Jahr 2020 wurden von den insgesamt 438.313 anhängigen Klagen 50 % durch Vergleich, 9 % durch Urteil und weitere 15 % auf andere Weise beendet.[1]

 

Rz. 2

Diese Zahlen mögen veranschaulichen, dass der Kündigungsschutzprozess und seine gütliche Beilegung nach wie vor den Schwerpunkt anwaltlicher Tätigkeit im Arbeitsrecht bilden.

 

Rz. 3

Die Tätigkeit des Anwalts im Kündigungsschutzprozess beinhaltet einige Besonderheiten. Ist man auf Arbeitnehmerseite tätig, so muss sich der Anwalt stets darüber im Klaren sein, dass sein Mandant in einer mehr oder weniger existenziellen Situation seine Dienstleistung nachfragt. Der drohende Verlust des Arbeitsplatzes bringt Mandanten in persönliche wie wirtschaftliche Notlagen. Droht einem Arbeitnehmer jenseits der 55 Lebensjahre der Verlust des Arbeitsplatzes, so muss bei der aktuellen wirtschaftlichen Situation davon ausgegangen werden, dass die dauerhafte Arbeitslosigkeit folgt.

 

Rz. 4

Zielsetzung des Kündigungsschutzrechtsstreites ist rechtlich immer der Bestandsschutz, wirtschaftlich aber meist der Erhalt einer möglichst hohen Abfindung. Diesen Zielkonflikt gilt es gegenüber dem Mandanten frühzeitig offen zu legen und im Rahmen des Verfahrens aufzulösen. Hierbei ist insbesondere damit zu rechnen, dass sich die Zielsetzung des Mandanten während des Verfahrens ändert. Steht anfangs der Bestand des Arbeitsverhältnisses im Vordergrund, geht es später meist um eine Abfindungslösung.

 

Rz. 5

Eine weitere Besonderheit des Kündigungsschutzrechts liegt in dem schnellen Durchsatz der Mandate. Zwischen Mandatsannahme und Mandatsbeendigung liegen häufig nur wenige Wochen, nämlich die Zeit zwischen Klageerhebung und Gütetermin. Auch ansonsten ist hohe zeitliche Flexibilität des Arbeitsrechtsanwalts gefragt. Mandanten melden sich beim Arbeitsrechtsanwalt im Regelfall dann, wenn akuter Handlungsbedarf besteht, die Kündigung zugegangen ist/innerhalb weniger Tage auszusprechen ist etc. Dementsprechend ist der Arbeitsrechtsanwalt häufig gezwungen, kurzfristig Termine zu vergeben.

 

Rz. 6

Auch bei der Tätigkeit auf Arbeitgeberseite bestehen im Kündigungsschutzprozess Besonderheiten. Im Rahmen größerer Personalabbaumaßnahmen kann das Unterliegen in einem Kündigungsschutzrechtstreit zwar keinen Dominoeffekt mehr im Hinblick auf zahlreiche andere Kündigungsschutzrechtstreitigkeiten auslösen. Beruft sich jedoch ein gekündigter Arbeitnehmer auf Auswahlfehler, muss der Arbeitgeber diesem Vortrag entgegentreten. Anderenfalls würde die Kündigung als sozial ungerechtfertigt angesehen.[2] Das Verlieren eines Kündigungsschutzprozesses kann bei kleineren Betrieben Konsequenzen bis hin zur Insolvenz des Unternehmens haben. Kehrt ein Arbeitnehmer nach gewonnenem Kündigungsschutzprozess in den Betrieb zurück, so ist dieser "Gesichtsverlust" für den Arbeitgeber häufig kaum hinnehmbar. Oft regieren irrationale Interessen die Zielsetzung und das Verhalten der Parteien im Kündigungsschutzprozess. Auch hier ist der Arbeitsrechtsanwalt gefordert, die Auseinandersetzung in rationale Bahnen zu führen, um zu tragfähigen Lösungen zu gelangen.

 

Rz. 7

Grundvoraussetzung für das erfolgreiche Führen von Kündigungsschutzprozessen ist neben der Kenntnis des materiellen Rechts – hierzu soll dieses Buch beitragen – das vollständige Erfassen und Verwerten des jeweils zugrunde liegenden Sachverhaltes. Die Lebenssachverhalte, aus denen der Kündigungsschutzprozess resultiert, sind fast immer komplex. Mandanten können selten beurteilen, welche Sachverhaltselemente tatsächlich wesentlich sind, der Anwalt muss gezielt nachfragen, insbesondere auch über den eigentlichen bestandsschutzrechtlichen Lebenssachverhalt hinaus.

 

Rz. 8

Schließlich muss sich der Anwalt im Kündigungsschutzprozess mit taktischen und strategischen Überlegungen vertraut machen und diese in seiner täglichen Arbeit umsetzen. Das Arbeitsrecht und insbesondere das Kündigungsschutzrecht sind einzelfallgeprägt. Sowohl im Rechtlichen als auch im Tatsächlichen liegt jeder Fall anders. Das blinde Übernehmen der Standardkündigungsschutzklage aus einem Formularbuch oder neuerdings das automatische Generieren mittels KI verbietet sich daher. Es ist zu jedem Zeitpunkt zu reflektieren, welchen Schritt man wann vornimmt. Es ist nicht nur ein anwaltlicher Kunstfehler, sondern kann haftungsrelevant werden, wenn der Anwalt bei einer Probezeitkündigung erkennt, dass die Betriebsratsanhörung nicht oder fehlerhaft vorgenommen worden ist und dies in seiner Kündigungsschutzklage so frühzeitig rügt, dass der Arbeitgeber während der Probezeit erneut, diesmal unter ordnungsgemäßer Beteiligung des Betriebsrats, kündigen kann. Der Anwalt muss sich also nicht nur bemühen, den Sachverhalt vollständig zu erfassen und ebenso vollständig auszuschöpfen, ...

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