Rz. 21

Trotz der insoweit eindeutigen Rechtslage lehnen Richter vielfach selbst begründete Entbindungsanträge ab, meist mit einer vorgeschobenen Begründung wie z.B., die Anwesenheit des Betroffenen sei zur Aufklärung wesentlicher Punkte erforderlich.

Richtig ist zwar, dass jetzt der Betroffene grundsätzlich zum Erscheinen in der Hauptverhandlung verpflichtet ist, das Gesetz hat aber gleichzeitig keinen Zweifel daran gelassen, dass ein Antrag auf Entbindung nur dann abgelehnt werden darf, wenn von der Anwesenheit des Betroffenen ein Aufklärungsbeitrag, und zwar zu einem für das Verfahren wesentlichen Punkt, erwartet werden kann.

a) Persönlicher Eindruck (insbesondere, wenn es um ein Fahrverbot geht)

 

Rz. 22

Vor allem in Fahrverbotsfällen wird immer wieder behauptet, die Anwesenheit des Betroffenen sei deshalb notwendig, weil für die Beurteilung der Frage, ob das Fahrverbot zur Einwirkung auf den Täter verhängt werden müsse, der persönliche Eindruck notwendig sei. Dem ist bereits in der Vergangenheit die obergerichtliche Rechtsprechung regelmäßig entgegengetreten (z.B. OLG Frankfurt zfs 1994, 388; OLG Koblenz NZV 1994, 332; Thüringer OLG zfs 1995, 115), und hält daran auch nach der Neuregelung des § 73 OWiG fest (OLG Dresden zfs 2003, 98; OLG Zweibrücken zfs 2004, 481; OLG Stuttgart DAR 2004, 542; OLG Stuttgart zfs 2007, 654; OLG Karlsruhe zfs 2005, 154; OLG Koblenz NZV 2007, 58; OLG Hamm NZV 2007, 632; KG NZV 2007, 633; OLG Celle NZV 2008, 582; OLG Frankfurt NZV 2012, 192; OLG Bamberg NZV 2013, 612 sowie OLG Koblenz NZV 2007, 587).

b) Anhörung zum Augenblicksversagen

 

Rz. 23

Ebenso wenig ist die Ablehnung des Antrages damit zu begründen, dass der Betroffene zur Frage des Augenblicksversagens gehört werden müsste (BayObLG DAR 2002, 133), denn wenn solche Tatsachen vorgetragen oder auf sonstige Weise erkennbar sind, muss sich das Gericht von Amts wegen damit auseinandersetzen (OLG Karlsruhe zfs 2006, 229).

c) Möglichkeit zur schriftlichen Äußerung

 

Rz. 24

Als übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns ist der mit Verfassungsrang ausgestattete Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. So auch hier. Deshalb darf die Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen nur dann aufrechterhalten werden, wenn die als notwendig angesehene weitere Aufklärung nicht mit weniger belastenden Mitteln, z.B. mit schriftsätzlichem Vortrag, erreicht werden kann (BayObLG DAR 1999, 272; 2002, 133; OLG Karlsruhe zfs 1999, 538; OLG Dresden zfs 2003, 209).

d) Erwartung, der Betroffene werde sein Schweigen brechen

 

Rz. 25

Das war und ist eine besonders beliebte Begründung für die Ablehnung des Entbindungsantrags, zumal sie sich früher auf eine noch vor der Reform ergangene Entscheidung des BGH (zfs 1992, 283) stützen konnte. Die damalige Argumentation des Bundesgerichtshofs, damit solle dem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden, sich im Falle einer Veränderung der Beweislage doch noch redend verteidigen zu können, war ohnehin nur schwer nachvollziehbar, ermöglichte sie doch dem Richter, das eigentlich der Fürsorge dienende Argument gegen den Betroffenen zu kehren und im Falle seines Ausbleibens den Einspruch ohne jede Sachprüfung zu verwerfen (siehe hierzu OLG Dresden zfs 2003, 374).

 

Rz. 26

Das kann jetzt dahinstehen, da durch die Gesetzesänderung die BGH-Entscheidung überholt ist. Jetzt regelt das Gesetz nämlich explizit den Fall, dass der Betroffene sein Schweigen in der Hauptverhandlung angekündigt hat, und bestimmt weiter, dass sein Entbindungsantrag dann nur abgelehnt werden darf, wenn seine Anwesenheit zur Aufklärung wesentlicher Punkte notwendig ist.

 

Rz. 27

Andere Gründe, wie z.B. die rein spekulative und durch keinerlei konkrete Anzeichen gestützte Erwägung, der Betroffene werde sich möglicherweise unter dem Eindruck der Verhandlung doch noch äußern, können eine Aufklärungserwartung i.S.d. § 73 Abs. 2 OWiG nicht begründen (OLG Zweibrücken zfs 1999, 537; OLG Frankfurt zfs 2000, 226; BayObLG zfs 2002, 597; OLG Dresden zfs 2003, 78; OLG Stuttgart DAR 2004, 542; OLG Köln NZV 2013, 50; OLG Düsseldorf zfs 2008, 594; KG DAR 2012, 31).

e) Konfrontation mit Zeugen

 

Rz. 28

Die theoretische Möglichkeit, dass polizeiliche Zeugen sich in Anwesenheit des Betroffenen möglicherweise besser oder überhaupt erst an das Tatgeschehen erinnern, rechtfertigt ebenso wenig eine Aufklärungserwartung (KG DAR 2011, 146; OLG Hamm NZV 2016, 535) wie die Begründung, es sei eine Konfrontation des Betroffenen mit den Zeugen notwendig (OLG Köln NZV 2009, 52).

f) Belehrung oder rechtlicher Hinweis

 

Rz. 29

Schon gar nicht darf das persönliche Erscheinen erzwungen werden, nur um den Betroffenen in der Hauptverhandlung belehren (OLG Frankfurt NZV 2011, 561) oder ihm einen rechtlichen Hinweis geben zu können. Der Hinweis kann nämlich bereits vor der Hauptverhandlung im Übrigen auch dem Verteidiger gegeben werden (OLG Karlsruhe zfs 2013, 653).

g) Für die Rechtsfolgen wichtige Erklärungen

 

Rz. 30

Sämtliche über die reine Identitätsfeststellung hinausgehenden Angaben zu den persönlichen Verhältnissen, insbesondere zur beruflichen Tätigkeit und den wirtschaftlichen Verhältnissen, die für die äußere und innere Tatseite und die Verhängung der Rechtsfolgen von Bedeutung sind, sind Angaben zur Sache. Zu solchen Angaben ist der Betroffene auch vor Gericht nicht verpflichtet, deshalb kann se...

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