Rz. 858

Anzeigepflichtige Entlassungen, mithin "Massenentlassungen" liegen nach dem jetzt europarechtlich determinierten Entlassungsbegriff, dem "Kündigungszeitpunkt", vor, wenn die in § 17 Abs. 1 KSchG genannten Schwellenwerte an Entlassungen (vgl. Rdn 850) innerhalb von 30 Kalendertagen erreicht werden. Sowohl die Massenentlassungsrichtlinie als auch § 17 Abs. 1 KSchG stellen darauf ab, ob durch die beabsichtigten Kündigungen die Schwellenwerte überschritten werden, die die Anzeige- und Konsultationspflichten nach Art. 2 – 4 MERL bzw. § 17f. KSchG auslösen (vgl. BAG v. 22.4.2010 – 6 AZR 948/08, NZA 2010, 1057).

 

Rz. 859

 

Beispiel

In einem Betrieb mit 600 Arbeitnehmern erfolgt aufgrund der Stilllegung einer Abteilung zum 30.6. ein Personalabbau von 50 Arbeitnehmern. Die jeweiligen Kündigungserklärungen, die das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zum 30.6. auflösen sollen, erhalten 20 Arbeitnehmer am 15.3., fünf Arbeitnehmer am 10.4. und 25 Arbeitnehmer am 15.5. Eine anzeigepflichtige "Massenentlassung" nach § 17 KSchG liegt nicht vor, denn weder ab 15.3. noch ab 10.4. wird in einem Zeitkorridor von 30 Kalendertagen die für diese Betriebsgröße maßgebliche Mindestzahl von 30 Entlassungen erreicht.

Abwandlung

Die jeweiligen Kündigungserklärungen, die das Arbeitsverhältnis betriebsbedingt zum 30. Juni auflösen sollen, erhalten 20 Arbeitnehmer am 15.3., fünf Arbeitnehmer am 30. April und 25 Arbeitnehmer am 15.5. Es besteht Anzeigepflicht nach § 17 KSchG, denn ab 30.4. gerechnet fallen in einem Zeitraum von 30 Kalendertagen insgesamt 30 Entlassungen an, sodass bei dieser Betriebsgröße die Mindestzahl anzeigepflichtiger Entlassungen erreicht wird.

 

Rz. 860

Bei der Ermittlung, ob Entlassungen nach § 17 Abs. 1 KSchG ggü. der Agentur für Arbeit anzuzeigen sind, stehen andere Beendigungen des Arbeitsverhältnisses den auf eine Kündigung des Arbeitgebers zurückzuführenden Entlassungen gleich, wenn sie vom Arbeitgeber veranlasst worden sind, § 17 Abs. 1 S. 2 KSchG. Anzeigepflichtige Massenentlassungen liegen demnach auch vor, wenn bspw. betriebsbedingte Kündigungen zusammen mit vom Arbeitgeber veranlassten Aufhebungsverträgen oder Eigenkündigungen die für die jeweilige Betriebsgröße erforderliche Mindestzahl von Beendigungen des Arbeitsverhältnisses innerhalb von 30 Kalendertagen erreichen. Von einer arbeitgeberseitig veranlassten Auflösung eines Arbeitsverhältnisses ist dann auszugehen, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zu verstehen gibt, dass er, der Arbeitgeber, anderenfalls das Arbeitsverhältnis beenden werde, weil nach Durchführung einer Betriebsänderung keine Beschäftigungsmöglichkeit mehr bestehe (BAG v. 28.6.2012 – 6 AZR 780/10, NZA 2012, 1029; BAG v. 19.3.2015 – 8 AZR 119/14, ZInsO 2015, 2601). Die Anzeigepflicht von Entlassungen kann also nicht dadurch unterlaufen werden, dass der Arbeitgeber anstelle an sich beabsichtigter Kündigungen die betroffenen Arbeitnehmer zum Abschluss von Aufhebungsverträgen oder zum Ausspruch von Eigenkündigungen "gewinnt". Unberücksichtigt bei der Feststellung der Entlassungen bleiben freilich solche Aufhebungsverträge bzw. Eigenkündigungen, die nicht maßgeblich auf die Initiative des Arbeitgebers zurückgehen, sondern etwa deshalb abgeschlossen bzw. erklärt werden, weil die Gelegenheit einer anderweitigen Beschäftigung besteht oder der Betroffene künftig nicht mehr als Arbeitnehmer tätig sein will.

 

Rz. 861

Wechselt der Arbeitnehmer zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit bei betriebsbedingten Kündigungen in eine Transfergesellschaft, wird der Wechsel i.d.R. durch Abschluss eines dreiseitigen Vertrags zwischen Arbeitnehmer, bisherigem Arbeitgeber und Transfergesellschaft gestaltet. Wann bei Abschluss eines dreiseitigen Vertrags der Zeitpunkt der Entlassung eintritt, ist bislang nicht abschließend geklärt. Typisches Element des dreiseitigen Vertrags ist ein Aufhebungsvertrag zwischen bisherigem Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Deshalb ist bei der Bestimmung des Entlassungszeitpunkts auf den Abschluss des Aufhebungsvertrags abzustellen. Eine Entlassung i.S.d. MERL liegt daher nicht erst beim tatsächlichen Übergang des Arbeitsverhältnisses in die Transfergesellschaft, sondern bereits zum Zeitpunkt des Wirksamwerdens des dreiseitigen Vertrags vor (Seidel/Wagner, BB 2018, 692).

 

Rz. 862

In § 17 Abs. 4 KSchG ist klargestellt, dass fristlose Entlassungen, gemeint sind außerordentliche Kündigungen aus wichtigem Grund (vgl. Ascheid/Preis/Schmidt/Moll, § 17 KSchG Rn 39), bei der Berechnung der Mindestzahl der Entlassungen nach § 17 Abs. 1 KSchG nicht mitgerechnet werden.

 

Rz. 863

Entlassungen i.S.d. §§ 17 ff. KSchG werden im Regelfall auf betriebsbedingte Kündigungen zurückgehen. Das muss aber nicht so sein. Auch solche Entlassungen sind bei der Feststellung der Anzeigepflicht zu beachten, die ihre Ursache nicht in betriebsbedingten, sondern in anderen, z.B. personen- oder verhaltensbedingten Gründen haben (BAG v. 13.3.1969 – 2 AZR 157/68, DB 1969, 1298 = BB 1969, 997). Auf den Kündigungsgrund kommt es mithin...

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