Rz. 689

Gem. § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG ist eine aus dringenden betrieblichen Erfordernissen erfolgte Kündigung sozial ungerechtfertigt, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl des Arbeitnehmers soziale Gesichtspunkte nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt hat.

a) Zweck der Sozialauswahl

 

Rz. 690

Zweck der Sozialauswahl ist es festzulegen, welchem von mehreren vergleichbaren Arbeitnehmern eines Betriebes gekündigt werden muss, wenn das dringende betriebliche Erfordernis nur der Weiterbeschäftigung eines dieser Arbeitnehmer entgegensteht (BAG v. 2.6.2005, AP Nr. 73 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Durch die Sozialauswahl wird bei unvermeidbaren betriebsbedingten Kündigungen aus einem Kreis vergleichbarer Arbeitnehmer der sozial stärkste Arbeitnehmer ermittelt. Das ist derjenige Arbeitnehmer, der gemessen an seinen Sozialdaten am wenigsten auf seinen Arbeitsplatz angewiesen ist (BAG v. 19.4.1979, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 11; BAG v. 24.3.1983, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 21).

 

Rz. 691

Die Sozialauswahl kann somit dazu führen, dass nicht demjenigen Arbeitnehmer gekündigt werden darf, dessen Arbeitsplatz weggefallen ist, sondern einem anderen vergleichbaren Arbeitnehmer. Das KSchG schützt daher nicht den jeweiligen "Arbeitsplatzbesitzer", sondern denjenigen Arbeitnehmer, der im Verhältnis zu anderen, vergleichbaren Arbeitnehmern sozial schutzwürdiger ist (v. Hoyningen-Huene, NZA 1994, 1009, 1012). Durch die soziale Auswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG erfolgt damit eine "personelle Konkretisierung" betrieblicher Erfordernisse (Linck, AR-Blattei SD 1020.1.2 Rn 4; Berscheid, in: Kölner Schrift zur InsO, S. 1063 Rn 56).

b) Verhältnis zum Merkmal "anderweitige Beschäftigung"

 

Rz. 692

Die in § 1 Abs. 3 KSchG geregelte Verpflichtung, eine Sozialauswahl durchzuführen, steht in folgendem Verhältnis zu der in § 1 Abs. 2 S. 1–3 KSchG normierten Pflicht des Arbeitgebers zu prüfen, ob es anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten für den Arbeitnehmer gibt:

 

Rz. 693

Die Möglichkeit einer anderweitigen Beschäftigung im Betrieb oder in einem anderen Betrieb des Unternehmens betrifft die Frage, ob und ggf. in welchem Umfang betriebsbedingte Kündigungen dadurch vermieden werden können, dass von Kündigung bedrohte Arbeitnehmer auf freien Arbeitsplätzen im Betrieb bzw. in anderen Betrieben des Unternehmens eingesetzt werden (KR/Griebeling, § 1 KSchG Rn 607). Sind solche Umsetzungen möglich und dem Arbeitgeber zumutbar, vermindert sich dadurch die Anzahl der Arbeitnehmer, die entlassen werden müssen. Reicht die Anzahl der Arbeitsplätze, die für eine Umsetzung in Betracht kommen, nicht aus, sind die zu kündigenden Arbeitnehmer nach den Grundsätzen des § 1 Abs. 3 KSchG i.R.d. Sozialauswahl zu bestimmen (BAG v. 30.5.1985, EzA § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 24).

c) Geltungsbereich

 

Rz. 694

Eine Sozialauswahl ist grds. bei allen betriebsbedingten Kündigungen durchzuführen. Dies gilt gem. § 2 S. 1 KSchG auch für betriebsbedingte Änderungskündigungen (BAG v. 18.10.1984, AP Nr. 6 zu § 1 KSchG Soziale Auswahl). Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine Sozialauswahl nur bei einer ordentlichen Kündigung durchzuführen. Ist aber ausnahmsweise eine außerordentliche betriebsbedingte Kündigung zulässig, weil der betreffende Arbeitnehmer ordentlich unkündbar ist, sind die Maßstäbe der Sozialauswahl entsprechend heranzuziehen (BAG v. 5.2.1998, AP Nr. 143 zu § 626 BGB).

 

Rz. 695

Bei personen- oder verhaltensbedingten Kündigungen scheidet eine Sozialauswahl demgegenüber aus (BAG v. 23.9.1992, EzA § 1 KSchG Krankheit Nr. 37). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG, der sich nur auf betriebsbedingte Kündigungen bezieht.

 

Rz. 696

Entschließt sich der Arbeitgeber, seinen Betrieb in mehreren Etappen stillzulegen, hat er gleichwohl eine Sozialauswahl bei den etappenweise ausgesprochenen Kündigungen durchzuführen (BAG v. 16.9.1982, AP Nr. 4 zu § 22 KO; BAG v. 10.1.1994, AP Nr. 8 zu § 1 KSchG Konzern; BAG v. 10.10.1996, RzK I 5d Nr. 55). In einem solchen Fall hat der Arbeitgeber aber das Recht, für die verbleibenden Abwicklungsarbeiten vorrangig sozial stärkere Arbeitnehmer weiterbeschäftigen, wenn hierdurch Einarbeitungszeiten vermieden werden können (BAG v. 10.1.1994, AP Nr. 8 zu § 1 KSchG Konzern).

 

Rz. 697

Will der Arbeitgeber hingegen seinen Betrieb oder Betriebsteil "schnellstmöglich" vollständig stilllegen und kündigt er daher allen Arbeitnehmern mit der jeweils anwendbaren Kündigungsfrist, ist eine Sozialauswahl nicht erforderlich (BAG v. 7.7.2005 – 2 AZR 447/04, NZA 2005, 1351, 1353). Würden die ggf. noch zu erledigenden Abwicklungsarbeiten im Betrieb nach sozialen Gesichtspunkten und nicht nach der Dauer der jeweiligen Kündigungsfrist verteilt, würde dies lediglich zu einer längeren Kündigungsfrist bei sozial schutzwürdigeren Arbeitnehmern führen (BAG v. 7.7.2005 – 2 AZR 447/04, NZA 2005, 1351, 1353), diesen jedoch nicht den Arbeitsplatz erhalten. § 1 Abs. 3 KSchG bezweckt jedoch nicht die Verlängerung der (tarif)vertraglichen oder gesetzlichen Kündigungsfrist, sondern die längerfristige Erhaltung des Arbeitsplatzes ...

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